Die von Ort zu Ort reisenden „Wild West Shows“, die in den 1870er-Jahren als Vaudeville-Spektakel entstanden waren und die heute fixierten Western-Stereotypen im Zuge fesselnder Open-Air-Performances begründet hatten, wurden für das junge Kinogewerbe weiterentwickelt. So wurde amerikanische Geschichte fiktionalisiert, von der history zur story verkürzt. Mit der Ankunft des Tonfilms wurde der Western weiter demokratisiert, indem man ihn zu wendigen, oft innovativen B-Pictures verarbeitete. Hollywoods Studiosystem brachte das Genre in den 1940er- und 1950er-Jahren zur Hochblüte, John Ford, Raoul Walsh, Howard Hawks und Sam Peckinpah wurden zu Meistern des Genres, Regisseure wie Anthony Mann und Budd Boetticher zu den Auteurs einer weniger auf Breitwand-Monumentalismus als auf Action und Existenzialismus zielenden Westernkunst. In den 1960er-Jahren nahm man sich auch in Europa dieses sehr speziellen Zeichensystems an, synthetisierte und verlangsamte es radikal, konstruierte experimentelle Kino-Opern: Der Italo-Western kam, im Zugriff von Regisseuren wie Sergio Leone und Sergio Corbucci, zu Weltgeltung, Leute wie Franco Nero und Clint Eastwood wurden zu Superstars.
Eastwood, heute 94 und immer noch filmaktiv, trug als Regisseur und Darsteller die Westernmythen mit Rache-Thrillern wie „Unforgiven“ in die 1990er-Jahre weiter. Auch sein junger Kollege Kevin Costner schrieb sich als Regisseur und Hauptdarsteller in „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990) in die Neo-Western-Historie ein; und er blieb beim Genre. Über Jahrzehnte entwickelte Costner ein Filmprojekt, mit dem er, wie er sagt, „der wahren Geschichte Amerikas im Alten Westen“ zu ihrem Recht verhelfen wolle. Um aber „Horizon: An American Saga“, seine erste Regiearbeit seit 21 Jahren, auf die Beine zu stellen, musste Costner zu einem Gutteil auf eigenes Kapital zurückgreifen.
Der Ende Juni in den USA gestartete erste Teil der auf vier Kapitel konzipierten „Horizon“-Kinosaga floppte an den Kassen allerdings derart heftig, dass der geplante Kinoeinsatz des längst fertigen zweiten Teils (die Dreharbeiten des dritten laufen seit Mai) vom Verleih nun kurzerhand gestrichen wurde. Die Verwertung soll nur noch via Streaming erfolgen. An die 100 Millionen Dollar hat allein die dreistündige erste „Horizon“-Episode gekostet, die in Österreich ab 22. August im Kino zu sehen sein wird. Keine 30 Millionen lukrierte der Film an nordamerikanischen Kinokassen, im Rest der Welt hält man bei weit unter fünf Millionen Dollar an Rückflüssen. Aus der seit 2018 laufenden Erfolgs-Westernserie „Yellow-stone“, die auf Prime Video zu streamen ist, war Costner, 69, im Vorjahr – noch vor den Dreharbeiten am Finale, am zweiten Teil der fünften Staffel der Serie – ausgestiegen, um sich auf „Horizon“ konzentrieren zu können.
Inzwischen genießt der Italo-Western, nicht nur bei Quentin Tarantino („The Hateful Eight“, 2015), unverbrüchlichen Retro-Chic. Italienische Produktionsunternehmen arbeiten derzeit an einem Remake von Sergio Leones Klassiker „Für eine Handvoll Dollar“ (1964). Und auch in Serien wie „Breaking Bad“ (2008–2013) oder „Better Call Saul“ (2015–2022) werden Westernelemente gekonnt in die Gegenwart geholt.
Den Toten tut nichts mehr weh
Das Regelwerk des Genres ist nur scheinbar starr; es bietet Raum für Revisionen, gute Gelegenheiten zur Subversion alter Untugenden. Die Rolle der Frauen im Western etwa, die traditionell entweder als besonders schutzbedürftige oder käuflich erwerbbare Körper angelegt waren, ist länger schon Gegenstand beherzter Relektüren. Eine feministische Agenda hatte bereits Nicholas Ray in seinem Farbwestern „Johnny Guitar“ (1954); Joan Crawford und Mercedes McCambridge spielen darin nicht nur ausgesprochen wehrhafte, sondern auch unternehmerisch und materiell völlig autonome Charaktere. Die Männer um sie können mit der weiblichen Dynamik nicht mithalten.
Der Schauspieler Viggo Mortensen, 65, hat seine (demnächst in hiesigen Kinos startende) zweite Regiearbeit „The Dead Don’t Hurt“ genannt – und auch diese einer widerstandsfähigen Frau gewidmet, die zur Zeit des Bürgerkrieges in the middle of nowhere im amerikanischen Südwesten lebt. Und Mortensen entdeckt dabei das Potenzial der unglamourösen, in sich ruhenden Westernheldin, einer Frontier-Normalbürgerin: Vicky Krieps, die in „The Dead Don’t Hurt“ das Gravitationszentrum bildet, spielt dort, ähnlich wie Lily Gladstone in „Killers of the Flower Moon“, keine Draufgängerin, sondern eine eher introvertierte, aber souverän agierende Protagonistin.
Für Mortensen war Vicky Krieps, wie er hier im profil-Gespräch erklärt, die Initialzündung seines Films. Insbesondere ihr Spiel in Paul Thomas Andersons „Phantom Thread“ (2017) hatte ihn bewogen, sie zu besetzen. „Ihre Präsenz, ihre Fähigkeit, auch schweigend zu kommunizieren, ihr starkes inneres Leben, all das erinnerte mich an die junge Meryl Streep. Und sie sieht eben auch so aus, als käme sie aus einer anderen Ära.“
Erst im vergangenen Jahr war Mortensen in den schwarzweißen Westernszenen, die Lisandro Alonsos Kinoexperiment „Eureka“ eröffneten, zu sehen gewesen. Die Filme hätten wenig miteinander zu tun, aber er trage in beiden denselben Hut, erklärt Mortensen knochentrocken. Warum er unbedingt einen Western inszenieren wollte, ist mit seiner Affinität zu Pferden allein nicht zu erklären. Er habe eine Geschichte über eine starke, unabhängige Frau geschrieben, „und ich dachte, wenn ich sie ins 19. Jahrhundert, in den amerikanischen Westen setzte, in eine von mächtigen, korrupten und bisweilen gewalttätigen Männern dominierte Gesellschaft, wäre es für diese Frau viel schwieriger, ihre Unabhängigkeit zu leben. So wurde ein Western daraus. Und ich mochte die Idee: Denn wie Sie sagen, ich liebe Pferde und mag das Genre. Ich wuchs ja, wie die meisten Kinder meiner Generation, mit Western auf. Sie waren immer um uns.“
Eine Geschichte der Vergebung
Er habe eine sehr klare Vorstellung davon gehabt, wie sein Film aussehen und klingen sollte: „wie ein klassischer Western nämlich, in dem aber inhaltlich auch andere Wege eingeschlagen werden: Ich stelle eine Frau in den Mittelpunkt, bei ihr bleibt die Erzählung stets, auch wenn die Figur, die ich spiele, in den Krieg zieht und die Frau allein zurücklässt.“ Unkonventionell sei etwa auch der Umstand, dass Immigranten entscheidende Rollen spielen, eine gewisse Sprachvielfalt herrsche. „Es gibt in diesem Film vieles, das man üblicherweise in Western nicht zu sehen kriegt.“
„The Dead Don’t Hurt“ ist ein melancholischer Western geworden, der sich zunächst auf eine Rachegeschichte hin zu bewegen scheint. Doch der Film entwickelt sich in andere Richtungen; die Gewalt ist nicht sein Fokus. „Es ist eine Geschichte der Vergebung, weniger eine Story der Rache.“ Sein Ausgangspunkt sei „nie konzeptuell oder ideologisch“, sagt Mortensen noch. „Ich versuche, mich einer bestimmten Tradition respektvoll zu nähern, in schlichter, eleganter Fotografie, historisch und musikalisch akkurat.“ So wirft Nordamerikas Vergangenheit Licht in dessen Gegenwart – und die Fiktion sucht die Wirklichkeit heim.