Sterbeprotokoll
Ende April 2015 zeigt sich ein erster leichter Schmerz unterhalb des rechten Rippenbogens. Bald erhält der Budapester Schriftsteller Péter Esterházy die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs, Metastasen in der Leber. Hohe Mortalität, alle Hoffnung weggeschwemmt. Esterházy stirbt am 14. Juli 2016 im Alter von 66 Jahren. Den Literaturnobelpreis hätte der Autor verdient gehabt, hinterlassen hat er sein "Bauchspeicheldrüsentagebuch", eine lückenhafte Tag-für-Tag-Mitschrift vom Erstbefund bis Anfang März 2016. "Bauchspeicheldrüsentagebuch" ist Diarium der Krankheit, Notizheft, Selbstversuch, Chronik eines verlorenen Jahres, Prosazauberei, einzigartiges Literaturdokument. Man kommt schwer los von der Wucht dessen, was in den Zeilen dieses Buchs verhandelt wird. "Ich stehe am Anfang des Endes, könnte ich witzeln", schreibt Esterházy: "Und wo, zum beschissenen Henker, bleibt wieder die Tragödie? Na, sie wird schon irgendwie hereinsickern."
Esterházy geht es nicht um Selbst-Musealisierung. Er gebärdet sich nicht wie der Moderator seiner eigenen Abschiedsshow. Selbst mit dem sicheren Tod vor Augen meidet er die Tonlagen der schaurigen Ernsthaftigkeit und der alarmierten Prophetie: "Dass ich der Hauptdarsteller meines Lebens sein soll, das sehe ich nicht immer, doch bei dieser Geschichte bin ich das sicherlich. Das heißt, für mich ist es, hihi, in einem gewissen Sinn tatsächlich leichter. Jeder andere dümpelt nur in meinem Kielwasser dahin. Ich dümple allerdings auch, ich weiß nicht, wer und wo ich bin und was eigentlich gespielt wird. Das gewohnte partielle Wissen."
Esterházy berichtet von einem fast schon flüchtigen Dasein im Schatten der Krankheit. Er spart die Angst und Panik, die quälenden Schwierigkeiten beim Essen und all die anderen Verzweiflungsmomente im Krankenhaus keineswegs aus, er protokolliert Medikamentennamen, Blutdruckwerte, das purzelnde Gewicht: "Ich wiege 83,4 Kilo, also habe ich abgenommen, das sind zehn Kilo weniger seit Weihnachten. Ohne Krebs wäre das super." Wie sich Esterházy gegen das Unabänderliche stemmt, dabei die Spruchweisheiten und Alltagsaphorismen zum Sterben in das Säurebad eines allgemeinen Skeptizismus taucht und nicht auf ein mögliches Lesepublikum schielt, ist aller Ehren wert und etabliert ihn ein letztes Mal als großen Poeten, Lebenslustmacher, Menschenfreund.
Existenzielle Tiefe und hintergründige Heiterkeit
"Zu Mittag wird es Backhuhn geben, auch das ist Zukunft", notiert Esterházy. "Manchmal seufze ich wie im Gebet auf: Scheißescheißescheiße. Ich habe keine Schmerzen, trotzdem tut Seufzen wohl." Er versucht, an den Schreibtisch zurückzukehren. "Gerade erst 10, das Dreieck: Frühstück-Medikamente-Wasistheutelos? hinter mich gebracht, ab ins Bergwerk. Der gestrige Tag war ohnehin arbeitsschwach. Der eine ist so, der andere anders. Darum ist es schön zu altern, um so weise Sachen sagen zu können. Ab." Der Krebs verrichtet derweil sein verheerendes Werk. "Doch bis dorthin", hält Esterházy fest, "fließt noch genug Wasser die Donau hinunter. - Noch so ein Satz und ich wechsle den Beruf." Im Oktober 2015 schreibt er: "Ich sprach einen Satz laut aus, von dem ich mich mit aller Bestimmtheit distanziere: Es wäre gar nicht so schlecht zu sterben. Ich müsste nicht so viel von Krebs zu Krebs herumwursteln, dazu noch die Gewerbesteuer. Und Faxe an das Krankenhaus. Und Briefe beantworten." Esterházy stellt dem Tod an der Türschwelle nicht die alles überwölbenden Fragen: Was kommt danach? Warum gerade ich? Was, wenn ich mein Leben nochmals leben dürfte? Er stiehlt sich lautlos davon, von leisem Kichern geschüttelt. "Wir sterben, wie wir gelebt haben. - Wenn wir zu Weisheiten gelangen, ist das das Ende."
Der Text in "Bauchspeicheldrüsentagebuch" franst immer wieder aus, wirkt wie zufällig hingekleckst, ist aber, wie bei Esterházy üblich, Resultat eines großen Schriftstellerlebens, eines jahrzehntelangen Nachdenkens über Wesen, Funktionen und Möglichkeiten der Literatur. Esterházy war ein Autor, der in seinen Romanen und Essays erzählerischen Schalk mit betörendem Esprit, existenzielle Tiefe mit hintergründiger Heiterkeit zu mischen wusste. Er war vom proletarischen Flair des Fußballs ebenso gebannt wie von den Untiefen jenes Spitzelarchivs, in dem unvermutet der Name seines Vaters auftauchte. Unter dem Decknamen "Csanádi" war Esterházys Vater von 1957 bis 1980 inoffizieller Mitarbeiter und berichtete an die ungarische Geheimpolizei. Zuvor hatte der Autor dem Vater den Familienroman "Harmonia Caelestis" (2000) mitgewidmet; in der Nachschrift "Verbesserte Ausgabe" (2002) arbeitete Esterházy diese persönliche Tragödie auf. Poesie war das Grundrauschen in Esterházys Leben. Zwischen Fiktion und der sogenannten Realität hat er nie einen Unterschied gemacht. Auch im Sterben nicht.
"Es ist nicht leicht, der Wirklichkeit nahezukommen, nicht einmal der eigenen", registriert er im Juni 2015. "Herrgottsakra, der Realismus." 19. Juli 2015: "Wenn ich jetzt daran denke, dass auch ich binnen Wochen, dann habe ich keine, aber auch gar keine Angst. Das bedeutet entweder, dass dies keine wirkliche Möglichkeit ist, also ist mein möglicher naher Tod nur ein Gedankenspiel, oder dass ich nichts von dem begreife, was mit mir geschieht. Auch das ist ein Gedankenspiel." 28. Februar 2016: "Ich beweine nicht mich selbst, ich weine nur so ziellos in die Welt hinein. Das ist irgendwie nicht so romantisch, ich sollte es trockener (ohne Tränen?) beschreiben, darüber schreiben." Noch ein Gedankenspiel, ein Jahr vor Esterházys Tod: "Was sollte denn hier die Beute sein (!)? Sagen wir es ohne Umschweife, wie immer, die Schönheit des Lebens."
Péter Esterházy: Bauchspeicheldrüsentagebuch. Aus dem Ungarischen von György Buda. Hanser Berlin, 239 S., EUR 20,60