Energie & Zorn: Die neunjährige Helena  Zengel brilliert als traumatisierte Filmheldin.
Systemsprenger: „Damals wurden Kinder systematisch zerstört“

Systemsprenger: „Damals wurden Kinder systematisch zerstört“

Regisseurin Nora Fingscheidt über jugendliche Wut, behördliches Versagen und ihr Kinodrama „Systemsprenger“.

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Interview: Stefan Grissemann

Ein Film über „Systemsprenger“, was soll das sein? Wird da von politischem Aufruhr, von G20-Gegnern erzählt? Nein, Nora Fingscheidts präzise recherchiertes Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ (seit 27. September im Kino) berichtet von einer traumatisierten, zu eruptiver Gewalt neigenden Neunjährigen, die aufgerieben zwischen Pflegefamilie, Heim und Kinderpsychiatrie – nicht zur Ruhe kommt und eben alle Systeme sprengt, die es in der deutschen Jugendhilfe gibt. Benni, gespielt von der furiosen Helena Zengel, ist ein deutsches Mittelstandskind, das in einem mutigen Antiaggressionstrainer (Albrecht Schuch) einen Verbündeten findet, der alles versucht, sie aus der Psychofalle zu befreien, in der sie sitzt. Aber die Rückschläge werden immer härter. Helena Zengel scheint übrigens bereits internationale Karriere zu machen: Sie soll demnächst neben Tom Hanks in dem historischen Hollywood-Drama „News of the World“ auftreten.

profil: Waren die Dreharbeiten zu „Systemsprenger“ nicht enorm anstrengend? Fingscheidt: Schon. Es war kalt, körperlich extrem fordernd und dauerte endlos. Es gab schöne Momente, aber es war auch ein Grenzgang. Das Drehbuch war 123 Seiten lang, und wir brauchten – wegen der Kinderarbeitszeiten, die auf fünf Stunden am Tag streng beschränkt sind – 67 Drehtage, das ergab stolze 120 Stunden Material. Dass wir in diesem Wust unseren Film wiederfanden, haben wir dem Schnittmeister Stephan Bechinger zu verdanken. profil: Wie war eine derart aufwendige Produktion denn zu finanzieren? Fingscheidt: Durch Niedrigstgagen für alle Beteiligten. Als ich mit dem Projekt begann, studierte ich noch an der Filmhochschule. Ich hatte ganz naiv gedacht, das könnte mein Diplomfilm werden. Aber das wäre, auch angesichts unzähliger Komparsenkinder, unmöglich gewesen. Und geschnitten haben wir „Systemsprenger“ auf dem Laptop, in der Wohnung meiner verstorbenen Oma. Unser Team war klein und idealistisch.

Der Begriff wird auch deshalb marginalisiert, weil er eine Problematik beschreibt, die man gerne schnellstmöglich lösen können will.

profil: „Systemsprenger“ entstand aus Ihrer dokumentarischen Arbeit. Andererseits sagten Sie unlängst, Ihr Film erhebe „keinen Anspruch auf Realismus“, weil die Wirklichkeit „viel schlimmer“ sei. Sie legen Wert darauf, zu betonen, dass Ihr Film unrealistisch sei? Fingscheidt: Natürlich. Das ist ja alles sehr geschrieben, eigentlich ein Märchen. Ich wollte eine gezielt konstruierte, eben spielfilmische Energie erschaffen. Das hätte ich dokumentarisch nie hinbekommen. Ich wollte auch in das Leben echter Systemsprengerkinder nicht eindringen. profil: Es fällt ein wenig schwer, in Ihrem Film ein Märchen zu sehen. Was halten Sie daran für märchenhaft? Fingscheidt: Die Konstruktion der Geschichte, ihre stellenweise überhöhte Form. Und Märchen in ihrer klassischen Form sind viel gewaltvoller als mein Film. Da kommt keiner heil raus, auch Kinder nicht. profil: Ist „Systemsprenger“ eigentlich ein Fachbegriff? Fingscheidt: Es ist ein eher inoffizieller Begriff. Das Jugendamt würde ihn nicht benutzen, aber mittlerweile gibt es schon Tagungen zum Thema. Der Begriff wird auch deshalb marginalisiert, weil er eine Problematik beschreibt, die man gerne schnellstmöglich lösen können will.

profil: Angesichts der heftigen Ereignisse, die Sie in Ihrem Film zeigen, klingt es verstörend, wenn Sie sagen, die Realität sei viel schlimmer. Was haben Sie in der Recherche erlebt? Fingscheidt: Die Schicksale echter Systemsprenger sind leider noch krasser. Da mischen sich oft ganz andere Themen – etwa sexueller Missbrauch – mit hinein, die wir bewusst vermieden haben. Es gibt sehr viel verkorkstere Familiendynamiken. Und die wechselnden Zuständigkeiten des Betreuungspersonals komplizieren die realen Fälle. profil: Sie geben dieser niederschmetternden Geschichte eine gleichsam antidepressive Form: hochdynamisch, fast euphorisch in Musik und Bewegung. So wollten Sie die Schwere der Hoffnungslosigkeit exorzieren? Fingscheidt: Das entstand aus der Energie dieses Mädchens, das in alle Richtungen überbordend agiert. Diese Energie musste sich im Film wiederfinden: durch die Musik, die Farben, die Sprache. profil: Die fast schon beängstigend glaubhafte Performance der neunjährigen Schauspielerin Helena Zengel trägt Ihren Film. Wie haben Sie sie gefunden? Fingscheidt: Sie war das siebente Mädchen, das wir trafen; Helena kam ganz banal über eine Kinder-Castingagentur zu uns. Ich konnte es zunächst nicht glauben, ließ 150 weitere Mädchen vorsprechen, aber keines besaß auch nur annähernd Helenas Dringlichkeit.

Energie & Zorn: Die neunjährige Helena  Zengel brilliert als traumatisierte Filmheldin.

profil: Fanden Sie, es müsse unbedingt eine Amateurin sein? Helena hatte ja bereits Schauspielerfahrung. Fingscheidt: Ja, ich dachte, eine für diese Figur geeignete Schauspielerin könne man nur auf der Straße oder in irgendwelchen Kampfsportvereinen finden. profil: Braucht man am Set nicht psychologische Assistenz für Kinder, die schwer Traumatisierte und körperliche Auseinandersetzungen darstellen sollen? Fingscheidt: Nein. Man braucht natürlich Kinderbetreuung. Aber mir wurde irgendwann klar, dass ich das Psychologische selbst leisten musste. Wir nahmen uns ein halbes Jahr Vorbereitungszeit, nur sie und ich. Wir redeten über Bennis Charakter, improvisierten Szenen aus ihrem Leben. Manchmal gingen wir auch nur in den Secondhand-Laden, um Kleidung oder Kuscheltiere zu suchen. Was würde Benni gut finden? Da brachte Helena viel ein. Das Drehbuch hatte sie mit ihrer Mutter genau studiert. Es war mir sehr wichtig, dass sie beide von Anfang an genau wussten, worauf sie sich einließen.

Wenn man sich anschaut, wie gruselig Kinderpsychiatrien noch in den 1970er-Jahren ausgesehen haben, merkt man, wie viel weiter wir als Gesellschaft heute sind.

profil: Um derart realistisch agieren zu können, muss man die ungelenkte Wut dieser Figur gut verstehen. Wie viel Benni trägt Helena in sich? Fingscheidt: Interessanterweise nicht viel. Sie ist fleißig und diszipliniert, gut in der Schule, dazu macht sie Eiskunstlauftraining und geht mit ihrem Pferd reiten. Aber sie ist enorm empathisch. So konnte sie sich gut in Benni hineinversetzen. profil: Wie probten Sie die harten Szenen, in denen Benni regelrecht durchdrehte? Fingscheidt: Das war die erste Übung beim Casting. Das Kind wurde mit einem Erwachsenen konfrontiert, die Handlungsanweisung lautete: Krieg ihn aus dem Raum – egal wie. Mit Schreien, Treten, Beschimpfen oder Bewerfen. Alles war erlaubt. Dabei sieht man schnell, welches Kind sich überhaupt traut, seinen Körper konfrontativ einzusetzen und Schimpfwörter zu benutzen. Die zweite Aufgabe war dann aber eine leise Dialogszene. Denn ich brauchte ja beides: körperliche Aggression und große Verletzlichkeit. profil: Sie wollten immer schon einen Film „über ein wildes Mädchen“ machen, auch weil es in der Kinogeschichte so wenige Beispiele dazu gibt. Könnte man „Systemsprenger“ einen feministischen Film nennen? Fingscheidt: Bewusst habe ich nicht in Richtung Feminismus gearbeitet, ich bin auch selbst in dieser Hinsicht nicht sehr ideologisch. Ich habe das Glück, dass die Frauengenerationen vor mir schon so vieles erkämpfen konnten.

Nora Fingscheidt

profil: Sie zeigen die Arbeit der Institutionen mit „betreuungsintensiven“ Kindern erstaunlich detailliert. Fingscheidt: Es war wichtig, das System mitzuerzählen. Und ich musste Bennis Charakter auch so extrem zeichnen, sonst wäre es zu leicht, die Schuld den Behörden zuzuschieben. Wenn man sich anschaut, wie gruselig Kinderpsychiatrien noch in den 1970er-Jahren ausgesehen haben, merkt man, wie viel weiter wir als Gesellschaft heute sind. profil: Sind solche Institutionen nach 1968 nicht offener geworden? Fingscheidt: Nein, gar nicht. Das ging tatsächlich noch bis in die 1980er-Jahre, als sich die Pädagogik endlich gedreht hat. Davor wurden schwer erziehbare Kinder so lange gemeinsam mit geistig behinderten Kindern in weiße Räume gesperrt und fixiert, bis man sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Damals wurden solche Kinder systematisch zerstört.

profil: Die Unbedingtheit des kindlichen Zorns hat etwas Bedrohliches: Ist die Angst vor dem eigenen Kind, wie das Bennis Mutter erlebt, weit verbreitet? Fingscheidt: Es sind natürlich Ausnahmen. Aber wir hatten Polizisten am Set, die erzählten, dass sie jede Woche gerufen werden, weil Eltern Angst vor ihren Kindern haben. Das jüngste davon war sechs. Manche Eltern schieben ihren tobenden Nachwuchs auch einfach in die Psychiatrie ab: Mein Kind ist kaputt – repariert es bitte.

Zur Person: Nora Fingscheidt, 36

Die deutsche Autorin und Regisseurin war vor der Premiere von „Systemsprenger“ eher durch kleine dokumentarische Arbeiten aufgefallen. Seit der Uraufführung ihres energiegeladenen Dramas einer tobenden Neunjährigen bei der Berlinale im Februar dieses Jahres gilt Fingscheidt als Regiehoffnung des deutschen Kinos. Als deutsche Einreichung für den Oscar in der Kategorie bester fremdsprachiger Film werden der Arbeit gute Chancen auf eine Nominierung eingeräumt. Derzeit bereitet Fingscheidt, die mit ihrer Familie in Berlin lebt, ihren zweiten großen Spielfilm vor: eine Kriegsverbrecherstudie, die unmittelbar nach dem Holocaust spielt. Das profil-Gespräch fand in Linz, beim Festival Crossing Europe statt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.