Nachruf

Terence Davies, 1945–2023: Abschied von einem alten Meister

Der englische Regisseur Terence Davies, einer der Größten des europäischen Kinos, blieb zeitlebens unterschätzt, wohl auch der immensen Traurigkeit seiner Filme wegen. Sie berichten von Familienterror, Einsamkeit und Verdammnis – und von der Erlösung durch die Liturgie von Farbe, Klang und Form.

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Zehn Filme sind es nur, die Terence Davies hinterlassen hat, zehn kostbar gestaltete, tief empfundene Werke, entstanden in 45 Jahren  – die markerschütternden ersten drei Kurzfilme, die er selbst 1983 zu einer abendfüllenden Trilogy zusammenfasste, als einen gezählt. Diese zehn Produktionen, darunter Meisterwerke wie „Distant Voices, Still Lives“ (1988), „The House of Mirth“ (2000) und „The Long Day Closes“ (1992), ein Melodram von geradezu bestürzender Schönheit, dessen Leuchtkraft im Kino ohnegleichen erscheint.

Gestern, fünf Wochen vor seinem 78. Geburtstag, starb Davies nach kurzer, schwerer Krankheit, wie es heißt, friedlich in dem englischen Dorf Mistley in Essex, wo er seit langem gelebt hatte: in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert, mit Terrasse und kleinem Garten, jenem Idyll, das er brauchte, mit liebevollen Nachbarn und ruhigen Tagesabläufen.   

Mit drei trostlosen Kurzfilmen in den Farbtönen Aschgrau und Kreidebleich startete Davies seine Laufbahn, mit Erinnerungen an das Inferno seiner Kindheit in den frühen 1950er-Jahren, eines Reihenhauslebens im Liverpooler Arbeitermilieu, als jüngstes von zehn Kindern, mit gewalttätigem Vater, autoritären Schulmeistern und einer schwer repressiven katholischen Kirche, in einer Zeit zudem, in der Homosexualität in England als Verbrechen geahndet wurde: Davies’ Trilogie ist, bei aller Genauigkeit der filmischen Form, derart wütend und so gnadenlos, dass man dies immer noch, bei jedem Wiedersehen, kaum fassen kann. Als ich vor zwei Jahren, im Rahmen der Viennale, den Regisseur zum Interview traf, von dem ich nicht ahnte, dass es unser letztes sein würde, bestätigte Davies den Befund: „Ich hatte ja selbst keine Hoffnung. Ich hatte 12 Jahre lang als Buchhalter gearbeitet, dachte schon, ich müsste in diesem öden Beruf sterben.“ Und dann kam er, wie durch Zufall, zum Regieführen. Doch seine Selbstzweifel blieben.

In die Vergangenheit zog es ihn unablässig, mit jedem neuen Film, auch als er sich ab 1995 von den Fesseln des Autobiografischen befreien wollte. Um Zeit und Erinnerung dreht sich Davies’ Kunst in ihrem Innersten. „Ich verstehe die moderne Welt nicht mehr. Und ich habe Angst vor ihr, weil ich Technophobiker bin. Ich kann keines dieser Geräte bedienen, nur mein Mobiltelefon gerade noch. Aber wenn mir jemand eine Nachricht hinterlässt, kann ich sie nicht abrufen.“ Ein Gegenwartsthriller ist ihm dennoch einst angeboten worden, ein Gangsterfilm. „Aber was weiß ich denn von der Unterwelt, vom Drogenkonsum? Ich nehme allenfalls dann und wann ein Aspirin.“

Sein eigener Drehbuchautor war Terence Davies stets, die geistreichen Dialoge seiner Filme entsprangen seinem dichterischen Wesen. Als Liebhaber raffinierter Sprache konnte er dem TikTok- und SMS-Jargon des 21.Jahrhunderts wenig abgewinnen. Auch die Zukunft seines Mediums, das sich von der Kinokunst in eine Streaming-Popkultur verwandelt hatte, sah er pessimistisch: „Wenn man einen Film auf seinem Toaster sehen kann, wird das keine große Erfahrung mehr sein. Ich hatte in meiner Kindheit acht Kinos in Gehweite, und jedes war anders!“ Davies’ nostalgische Feinnervigkeit zeigte sich auch in den Kunstwerken, denen er sich nahe fühlte; er liebte Douglas Sirks Fifties-Melodramen und die englische Komödie „Kind Hearts and Coronets“ (1949), T. S. Eliots Gedichte, Sibelius’ spätromantische Musik und Bruckners seelenstärkende Symphonien, ohne die er niemals leben hätte können, wie er sagte. Aber auch Hitchcocks „Psycho“ faszinierte ihn sowie, natürlich, die abgründige Innenweltausleuchtung Ingmar Bergmans. Immens musikalisch sind alle seine Filme, an die alle Dysfunktionen heilenden Pub- und Heimgesänge der Familien in „Distant Voices, Still Lives“ wird man sich erinnern.

Seine eigenen Leistungen spielte er in Interviews gern herunter. Sein Selbstbewusstsein sei ihm eben, erklärte er ganz sachlich, „aus dem Leib geprügelt worden, als ich sechs, sieben Jahre alt war. Mein Vater war extrem brutal. Mit sieben kam ich in die Grundschule, war glücklich, ihm fern zu sein. Mit elf wechselte ich an eine alte Knabenschule – und wurde vier weitere Jahre lang jeden einzelnen Tag geprügelt. Das ruiniert den Glauben an sich selbst eben.“

Zehn Filme also bleiben nur, entstanden zwischen 1976 und 2021, dabei hätte die Welt viel mehr davon gebraucht, mehr der Präzision, der Bildintelligenz und des unauslöschlichen Humanismus des Filmvirtuosen Terence Davies – und viel mehr seines unerschrockenen Blicks in die tiefen Krater der eigenen Prägungen. Stefan Zweig wollte er noch fürs Kino adaptieren (und in Österreich koproduzieren), dessen Romanfragment „Rausch der Verwandlung“ nämlich: die Erzählung einer verarmten jungen Postassistentin, die an der Zwischenkriegswelt verzweifelt, gerade weil sie weiß, wie sehr man diese, Privilegien vorausgesetzt, genießen könnte. 2022 hätte er drehen wollen, aber das Projekt wurde verschoben. So steckt das Postskriptum des Künstlers Terence Davies in dem Antikriegsdrama „Benediction“ (2021). Die letzte Szene seines letzten großen Films zeigt einen Mann in Tränen, dreieinhalb Minuten lang: Ein Kino der Einsamkeit findet hier, ganz schlicht, sein stilles Ende.

Das Adagio aus Bruckners Siebenter, ihren zweiten Satz, würde er übrigens wählen, wenn man ihn nach seiner Lieblingsmusik fragte, gab Terence Davies vor zwei Jahren noch zu Protokoll. Und tatsächlich: Diese Musik, 25 Minuten transzendenter Grazie, gemischt aus Melancholie, Verzauberung und Glückseligkeit, entspricht den stärksten Momenten seines Kinos.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.