„The White Lotus“: Fernweh und Fremdscham
Kann man eine Krise als Chance begreifen? Wenn ja, dann sollte Mike White als unverschämt ausgefuchster Chancenverwerter in Erinnerung bleiben. Als im Jahr 2020 die Welt – und damit natürlich auch die Film- und Fernsehindustrie – still stand, wurde in den Chefetagen der Studios angestrengt darüber gegrübelt, wie man unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen wieder produzieren könnte, vielleicht ja an einem einzigen, abgeschotteten Drehort. White, Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler, hatte im Auftrag des US-Premiumsenders HBO die passende Idee: eine Serie, die ausschließlich in einem paradiesischen Luxusresort spielt. In den opulenten Innenräumen und traumhaften Außenanlagen von „The White Lotus“ (so auch der Titel der Show) sollten unverschämt wohlhabende und auch sonst ziemlich unverschämte Gäste auf gestresstes, gegängeltes lokales Hotelpersonal treffen – bis sich die zusehends aufgeladene Stimmung am Ende der Urlaubswoche unweigerlich in einem nicht näher spezifizierten Todesfall entladen würde (der aber schon in der Pilotfolge durch narrative Kniffe angedeutet wird).
Der damals 50-jährige White, der bis dahin – abgesehen von seinem Renommee als Drehbuchautor von „School of Rock“ – eher an der Peripherie der Traumfabrik operiert hatte, machte mit dem Ensemblestück auf Maui nicht nur aus der Not eine Tugend, sondern etablierte aus dem Stand eine der prägendsten Produktionen der TV-Gegenwart.
Mit ihrer Komposition aus Fernweh und Fremdscham, Suspense und Satire stieß die im Sommer 2021 ausgestrahlte Debütstaffel bei Kritik und Publikum gleichermaßen auf helle Begeisterung: Es hagelte Preise, die Einschaltquoten erreichten Werte, die man bei HBO sonst nur bei diversen Drachensachen einpreist. Ursprünglich als abgeschlossene Miniserie geplant, folgte im Herbst 2022 der unausweichliche zweite Check-in, der mit beinah komplett neuer Besetzung und nun in Sizilien angesiedelt, sogar noch eine Nuance fulminanter zu Werke zu gehen wusste.
Zeitgeist in der Flasche
Doch würde es White, der in einer im Seriengeschäft raren Personalunion jede Folge ohne Writers’ Room selbst schreibt und inszeniert, auch ein weiteres Mal gelingen, den Zeitgeist-Blitz in der Flasche einzufangen? Die Erwartungen an die dritte Staffel (ab 17. Februar auf Sky) wurden sicher nicht durch seine Ankündigung gedämpft, das bisher Gesehene sei wie ein Warm-up für das, was sich nun auf Koh Samui zutragen werde.
Die frische Prämisse, die ihm während eines Fieberdeliriums beim Location-Scouting zugeflogen sein soll, baut stärker als bisher auf vorherige Geschehnisse auf und bringt durchaus überraschende Wiedersehen. Ohne zu viel zu verraten: Jennifer Coolidge, die extravagante Szenendiebin der ersten beiden Trips, ist nun nicht mehr der einzige rote Besetzungsfaden, der staffelübergreifende Handlungsstränge zusammenknüpft. In der jüngeren Vergangenheit nach wie vor recht einzigartig ist dagegen die durch das Franchise beschleunigte Karriere-Renaissance von Coolidge, die auch maßgeblich zum G’riss um die neu zu vergebenden Rollen beigetragen hat. „Wirklich jede Schauspielerin und jeder Schauspieler in Los Angeles und New York hat für die dritte Staffel vorgesprochen“, verrät Neuzugang Carrie Coon im profil-Interview – und die renommierte TV-Größe („The Leftovers“) meint das merklich weniger augenzwinkernd, als man vermuten könnte.