Theater der Grausamkeit bei den Filmfestspielen in Venedig
Das Kunstblut spritzt, fingierte Wunden klaffen, Gedärme quellen aus Bäuchen, und Körperteile werden abgerissen, attackiert oder durchtrennt. Es geht, nach ein paar unerwartet heiteren Intermezzi, in Venedig auf den Leinwänden derzeit heftiger zu, als man das bei Filmfestspielen gewöhnt ist. Der Weg von der durchgeistigten Kinokunst zum radikalkörperlichen Spektakel ist kurz. Aber auch eine von Folter, Machtmissbrauch und Kriegen definierte Wirklichkeit muss mit künstlerischen Mitteln bearbeitet werden.
Zirkus-Superhelden gegen Nazis
Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts wird im Gegenwartskino, wie das 78. Festival am Lido vorführt, in aller Härte rekapituliert, gern auch in opernhafte Fantasien gegossen. Regisseur Gabriele Mainetti etwa erschafft in „Freaks Out“ ein faschistisches Fantasy-Italien, in dem eine Zirkustruppe mit Superheldenfähigkeiten gegen das Nazi-Regime vorgeht. Franz Rogowski spielt da einen sadistischen Pianisten, der mit seinen zwölf Fingern selbst ein Freak ist und an die vier Artisten gerät, die an „The Fantastic Four“ ebenso wie an „The Wizard of Oz“ erinnern. Noch weiter zurück in die Historie dringt der bildgewaltige Thriller „Captain Volkonogov Escaped“ (Regie: Natasha Merkulova & Aleksey Chupov) vor, der von einem um Erlösung kämpfenden sowjetischen Exekutor anno 1938 handelt.
Die mörderische kommunistische Bürokratie waltet auch in dem Film „Leave No Traces“ ihres Amtes: Der junge Pole Jan P. Matuszyński gibt darin Ereignisse wieder, die noch vor seiner Geburt stattgefunden haben: Er rekonstruiert die Details eines historischen Polizei- und Justizskandals, des vertuschten und nie gesühnten Mordes an dem Maturanten Grzegorz Przemyk durch eine Gruppe prügelnder Polizeibeamter im Mai 1983. Über 30 Jahre später wird immer noch geschlagen und gemordet: Russische Milizen foltern in Valentyn Vasyanovychs „Reflection“ ukrainische Gefangene in minutenlangen, ganz expliziten Darstellungen. Im Nachspann bedankt sich der Filmemacher bei den Oberbefehlshabern der ukrainischen Streitkräfte; und auch wenn der Befund des Horrors kriegerischer Menschenrechtsverletzungen legitim ist, mischt sich hier doch etwas seltsam Propagandistisches ins Spiel.
Abtreibungen früher - und heute
Um körperliche Eingriffe und die Frage, wem diese eigentlich zustehen, kreiste schließlich auch die Annie-Ernaux-Adaption „L’événement“ (Das Ereignis): Die Erinnerungen der Autorin an ihre ungewollte Schwangerschaft und den Versuch, diese im Frankreich des Jahres 1963 zu beenden, als Abtreibungen noch illegal waren, übersetzt Regisseurin Audrey Diwan in eine kühle, fast zu lineare, auf das zentrale Thema absolut fokussierte Inszenierung. Aber in Zeiten, da auch sogenannte Demokratien ihre Abtreibungsgesetze wieder massiv verschärfen (siehe Texas), ist es dringend nötig, immer wieder darauf hinzuweisen, wie inhuman – und lebensgefährlich – es ist, die weibliche Selbstbestimmung im Namen von „Moral“ und Glauben zu unterminieren.