Theater: Der Tschauner, Wiens alte Stegreifbühne, modernisiert sich
Die Stimmung ist gut an diesem lauschigen Sommerabend in Ottakring. Lucy McEvil hat gerade den Soundcheck absolviert: „Ich kenne kein Lampenfieber“, sagt sie gewohnt souverän in einem legeren, trotzdem hautengen weißen Kleid. Ihr Garderobenplatz ist deutlich weniger glamourös als sie: eine Holzhütte, die mehr an ein Schwimmbad oder eine Sauna erinnert als an den Rückzugsraum eines klassischen Theaters. Der Rabenhof-Star Christoph Krutzler und die heimische Unterhaltungsgröße Gerald Votava schneien herein. „Meine zwei Testosteronbomben“, begrüßt Lucy die beiden nonchalant. Der Schmäh rennt.
Man könnte aber auch sagen: Das Trio redet sich warm. Was sie auf der Bühne zum Besten geben werden, ist nämlich kein klassischer Theaterabend. Der Tschauner, ein Traditionsbetrieb, der heuer sein 110-jähriges Bestehen gefeiert hat, steht für Stegreif, also Spielen ohne Netz. Es gibt keinen festen Text, nur eine Rahmengeschichte, die man gemeinsam möglichst unterhaltsam erzählt. „Eigentlich ist das ganze Stück ein einziger Hänger“, bringt es McEvil auf den Punkt: „Es ist ähnlich wie beim Moderieren: Man muss hellwach sein und auf sein Gegenüber eingehen.“ Auf dem Spielplan steht „Hotel Tschauner: Die Baustelle“, ein Stegreifformat, das im Vorjahr seine Premiere erlebte. Die Geschichte ist simpel: McEvil gibt eine Hotelerbin, die umbauen lässt, was natürlich zum Desaster wird – verzögerte Baupläne, Besuch der Lebensmittelbehörde, Teile eines Skeletts im Keller. Dazwischen gibt es Songs, und jede Vorstellung überrascht mit unterschiedlichen Stargästen, die als Hochzeitsband aufkreuzen. Diesmal sind es Krutzler und Votava; Sänger Louie Austen war schon da, Austrofred auch.
Ein Schiebedach schützt vor Regen, bei Schönwetter sieht man auch während der Vorstellung den Himmel, ein Sommerlüftchen erfrischt an diesem Abend. Gelsen gibt es erstaunlicherweise nicht. Die Vorstellung von „Hotel Tschauner: Die Baustelle“ beginnt damit, dass Lucy McEvil erklärt, wer welche Rolle übernehmen wird und was bisher geschah. „Des is a Mann“, flüstert eine Dame im Publikum ihrem Gatten zu. Aber damit hat sich die Irritation auch schon wieder, das Paar unterhält sich in weiterer Folge köstlich. Zum Konzept der Stegreif-2.0-Schiene gehört es, nicht zu erklären, wer oder was die queere Kunstfigur McEvil ist: ein sympathisch moderner und lockerer Zugang, der auch vom älteren Stammpublikum problemlos angenommen wird.
Schredderwitze
Weil man sich auf der Stegreifbühne auch gern tagesaktuell gibt, werden Schredderwitze zum Besten gegeben, natürlich auf Kosten von Sebastian Kurz, der als arbeitsloser Verwandter erwähnt wird – und der „in seiner Freizeit Old Schredderhand spielt“. Popstar Madonna und die heimische Diva Dagmar Koller kommen vor, und zur Band Wanda assoziiert man den Begriff Wanderarbeiter. Manche Scherze sind durchaus berechenbar; die Akteure müssen selbst lachen, wenn sie mit einer guten Pointe überrumpelt werden. Vor allem Linde Prelog versteht es, als Köchin des Grauens jedes Gegenüber aus dem Konzept zu bringen.
Die Zuschauer sind legerer als im Stadttheater. Man kommt, weil man sich unterhalten möchte. Viele Stammgäste haben bestimmte Lieblingsinszenierungen schon an die 20 Mal gesehen. Mit ironischen Trash-Musicals wie „Sissi – Beuteljahre einer Kaiserin“ oder „Pflanz der Vampire“ hat sich das Publikum ein wenig verändert. „Es ist eine wilde Mischung“, sagt McEvil: „Schwule Schwestern sitzen da neben Ottakringer Hausmeistern“. Intendantin Monika Erb, die „den Tschauner“ vor zwei Jahren übernommen hat, möchte das Stegreiftheater in die Jetztzeit bringen. Das Wienerlied erlebt ja auch gerade eine Renaissance.
Das klassische Stegreifprogramm des Tschauner trägt sprechende Titel wie „Die Bürgermeisterin unter der Tuchent“, „Blasi, die Sexbombe“, „Urschi, der Millionentrampel“ oder „Das Freudenhaus vom Liebhartsthal“. Der Schmäh fliegt tief, die Gags sind derb. Politische Korrektheit ist hier ein Fremdwort – oder bestenfalls ein Witz. Das Stammpublikum liebt vor allem Emmy Schörg, den Star des Ensembles. „Wie alt sie tatsächlich ist, weiß von uns keiner“, gesteht die Intendantin. Auf Wikipedia steht „vor 1940 in Hernals“ geboren. Schörg, Tochter eines Chauffeurs und einer Postangestellten, begeistert an der Tschauner-Bühne das Publikum seit 40 Jahren. Sie ist ein Urgestein, ihre unbändige Energie, ihr Mutterwitz und ihre Soubrettenstimme sind nach wie vor beeindruckend. Schörg ist die Tina Turner von Hernals: zeitlos und ständig unter Strom. Für Zartbesaitete sind die hier gebotenen Pointen freilich nichts. „Einige Spitzen haben wir auch aus den alten Stücken genommen, aber Emmy darf machen, was sie möchte“, erklärt die Intendantin, deren Ziel aber schon ist, dass „Humor nicht auf Kosten von anderen gehen muss“. Komödie braucht Stereotypen, Schenkelklopferschmäh um jeden Preis muss aber nicht sein.
Letzte bestehende Stegreifbühne Europas
Der Begriff „Stegreif“ leitet sich übrigens aus dem Althochdeutschen ab, aus Begriffen wie „stegareif“ und „stiegreif“, was sich mit „Steigbügel“ übersetzen lässt. „Aus dem Stegreif“ bedeutet also etwa: „ohne abzusteigen“: Man muss redegewandt sein, um nicht vom „Sattel“ zu fallen. Intendantin Erb ist glücklich, dass es 2018 gelungen ist, das „Stegreifspiel der Tschauner Bühne“ in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Zwei Jahre dauerte das Verfahren.
Der Tschauner ist mehr als ein Sommertheater für die ganz leichte Muse. Er ist eine Art Heuriger mitten in der Stadt. Mit der U3 bestens zu erreichen, wirkt er mit seinem schattigen Gastgarten wie eine grüne Oase. Vor der Vorstellung und in der Pause genießt das Publikum die Sitzgelegenheiten im Garten. Beliebt ist vor allem das „Tschauner Menü“: Um 4,50 Euro gibt es eine kalte Knacker mit kleinem Bier oder einem Gespritzten. Die Wurst ist gewöhnungsbedürftig, die Schmalz- und Liptauerbrote schmecken besser. Punschkrapfen werden auch angeboten.
Gespielt wird täglich, heuer bis zum 7. September. Der Tschauner ist angeblich die letzte bestehende Stegreifbühne Europas. Früher, als es noch kein Fernsehen gab, sollen in der Vorstadt an die 50 solcher Holzbühnen existiert haben, auf denen Varieté, Zirkus und Stegreif dargeboten wurden. Manche von ihnen waren bloß Bretterverschläge, andere, wie der Tschauner, hatten damals stattliche 1000 Sitzplätze. Karoline Tschauner, 1919 geboren, soll bereits als Kind – der Legende nach – als Rotkäppchen mit einem echten Wolf aufgetreten sein. Später war sie die Partnerin eines japanischen Messerwerfers, wurde außerdem als Eintänzerin und Damenboxerin ausgebildet.
Die Originalbühne wurde 1909 in Brigittenau gegründet, übersiedelte aber öfter, seit 1958 residiert der Tschauner in der Maroltingergasse. Nach dem Tod von Gustav Tschauner kämpfte seine Witwe um den Erhalt des Hauses – 1987 verkaufte sie es an das Wiener Volksbildungswerk. Aufgrund bestehender Einsturzgefahr wurde die Bühne 1988 abgerissen und neu aufgebaut. Mittlerweile trifft eine zeitgemäße Technik auf alten Charme, das Holz ist gut gealtert, die Natur hat sich den Ort zurückerobert. In der Winterpause nistet unter der Bühne ein Fuchspärchen, erzählt die Intendantin stolz. Im Frühjahr lernt man stets ihre Jungen kennen, die vom Team heuer Gin & Tonic getauft wurden. Eigentlich ein idealer Stoff für ein neues Stegreifstück. Und ein hochprozentiges „Tschauner Menü“.