Theaterlegende Otto Schenk: "Ich war immer ein Trottel"
"Herzhaft grantig": So ließe sich die Gemütslage von Otto Schenk an diesem sonnigen Dienstagvormittag beschreiben. Er sitzt versunken im Sofa der Bibliothek seiner Dachgeschoßwohnung mit Blick auf die Wiener Innenstadt und erzählt aus seinem Leben. Am 12. Juni wird die Theaterlegende 90. Der prachtvolle Text-Fotoband "Schenk - das Buch", vom Schauspieler gemeinsam mit dem Journalisten und Fotografen Michael Horowitz herausgegeben, lässt eine ausufernde Biografie Revue passieren: die Zeit als Direktor des Theaters in der Josefstadt (1988-1997); die 16 Inszenierungen an der New Yorker Metropolitan Opera; die gefeierten Leseabende ("Sachen zum Lachen"); die große Liebesgeschichte mit seiner Ehefrau Renée, die Schenk nur "Mika" nennt. "Mittlerweile bin ich 90 Jahre alt und habe immer darauf bestanden, keine Biografie zu schreiben, denn das langweilt mich wie ein Fußballmatch, bei dem es zu viele Längen gibt", notiert der Publikumsliebling in "Schenk - das Buch":"Ganz wichtig ist zumindest, dass man die faden Stellen auslässt."
profil: Sie zählen zu Österreichs bekanntesten Schauspielern. Wollten Sie so populär werden?
Schenk: Vorgesehen war das nicht, aber erwünscht. Ans Theater ging ich mit dem Bestreben, berühmt zu werden, aus keinem anderen Grund. Ich hätte es als Versagen empfunden, nur dabei zu sein. Dazu war mir das Theater immer zu fad. Ich wollte mitrudern.
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Wien wurde Ihnen auch schnell langweilig. 1970 inszenierten Sie "Fidelio" an der New Yorker Metropolitan Opera.
Schenk: Ich suchte ständig nach Ausstiegen. Wenn es am Theater mit meiner Lust nach beruflichem Aufstieg nicht klappte, stieg ich auf ein Schiff um, das besser im Strom schwamm.
profil: Der Begriff "Ehrgeizling" passt nicht zu Ihnen.
Schenk: Ich habe alles nur gemacht, weil mir so fad war.
profil: Wann wussten Sie, dass Sie berühmt sind?
Schenk: Nie -auch jetzt nicht. Ich wundere mich jedes Mal über einen vollen Saal. Ich freue mich aber weniger, sondern erschrecke eher.
profil: In Ihrer langen Karriere belieferten Sie die Zeitungen nie mit Klatsch und Sensationen. Mögen Sie keinen Tratsch?
Schenk: Ich habe mich nie darum bemüht. Meine Klatschseite ist uninteressant, und ich selbst verbreite keinen. Es handelt sich übrigens um ein Vorurteil, dass am Theater die Gerüchteküche besonders brodle. Architekten, Medizinerinnen, Klosterbrüder sind viel intriganter als Schauspieler. Am Theater werden Intrigen mit einer gewissen Fairness geführt. Mir ist keine Hinterlist bekannt, der ich zum Opfer gefallen wäre.
profil: Waren Sie selbst ein Intrigant?
Schenk: Nie. Ich wüsste nicht, wie man das macht. Es wird von mir auch keine Intrige mehr kommen. Was soll überhaupt noch kommen? Man werfe einen Blick auf meine Geburtsurkunde!
profil: In "Schenk - das Buch" bezeichnen Sie sich als "Menschenfresser". Muss man sich vor Ihnen fürchten?
Schenk: Ein bisschen durchaus. Meine Bisse tun den Gebissenen aber nicht weh. Mein Anknabbern macht sie ein wenig lächerlich. Ich nähere mich den Menschen um mich herum von der liebe-und verständnisvollsten Seite.
profil: Martin Buber schrieb: "Der Mensch wird am Du zum Ich."
Schenk: Ich bin ein Entdecker. Ich halte mir Freunde, forsche mit ihnen. Jedes Visavis ist auch ist ein Stück von mir. Ich bin partnersüchtig, im Theater wie im Privaten.
profil: Wollten Sie 90 Jahre alt werden?
Schenk: Das stand nie zur Debatte. 90 ist eine gruselige Zahl. Wenn ich sie zerlege, kann ich sie höchstens in Epochen aufspalten. Sie in Jahre zu teilen, geht nicht mehr. "Unlängst" bedeutet bei mir vor 20 Jahren. "Neulich" heißt, etwas fand vor 50 Jahren statt. Der Satz "Ich kann mich noch erinnern" datiert aus einer Vergangenheit, die ich mir nicht mehr vorzustellen vermag. "Le temps et la durée", hat Henri Bergson gesagt. Die Zeit und die Dauer.
profil: Man hat manchmal den Eindruck, Sie seien schon alt zur Welt gekommen.
Schenk: Ich empfinde das Alter als Rückentwicklung zum Kind. Goethe ist meiner Ansicht: "Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht, es findet uns nur noch als wahre Kinder." Ich wollte nie zu den jungen Wilden am Theater gehören, nicht aus Protest, sondern aus Ekel, weil mir diese Jungen meist schon zu alt waren. Bereits als Bub empfand ich Sehnsucht nach älteren Freunden. Sehr viel später musste ich schmerzlich feststellen, dass es kaum mehr Ältere gibt, die meine Gefährten hätten sein können. Nicht, weil sie zu blöd oder zu greisenhaft gewesen wären, das hat mich nie gestört - sondern, weil sie längst alle tot sind.
profil: In Ihrem Buch schreiben Sie: "Ich möchte nicht vertrotteln." Ist Ihnen das geglückt?
Schenk: Nicht ganz. Ich bin nicht vertrottelt. Ich war immer ein Trottel. Daran hat sich nichts geändert. Ich hoffe nur, die sogenannte Welt ist anderer Ansicht.
profil: Der US-Autor Philip Roth merkte an, das Alter sei ein Massaker. Stimmen Sie ihm zu?
Schenk: Voll und ganz! Wer das von einer anderen Seite betrachtet, ist entweder Satiriker oder ruchloser Optimist. Das Alter allein ist es aber nicht, sondern die Bosheiten, die dieser Alterskobold jeden Tag aufs Neue ausheckt. Man wacht auf und hat keine Stimme mehr. Woher nimmt dieser grässliche Alterserzeuger die Frechheit, einem die Stimme zu rauben? Man kann mit einem Fuß plötzlich nicht mehr gehen -den anderen lässt dieser Verderber gesund sein. Mein Alltag ist umgeben von bösartigen, liebenswerten, lustigen, satirischen Kobolden, die einem alles ein bisschen zu Fleiß machen.
profil: Werden Sie sich bei Gott beschweren?
Schenk: Das werde ich nicht, weil ich ihn mit absoluter Sicherheit nicht treffen werde. Nach meinem Tod wird eine unbesonnene Erinnerung an mich einsetzen, ein paar zerkratzte Platten werden unverkäuflich in Plattenläden herumstehen, meine Bücher werden bald nicht mehr gelesen werden. Das ist mein ewiges Leben. Viel mehr wird sich nicht tun. Ich gehe aus dem Zimmer und drehe das Licht ab. Vielleicht flirrt noch kurz ein Widerschein umher, ein Staubwölkchen, ein Geruch. Brecht schrieb, man sei erst wirklich tot, wenn niemand mehr an einen denke. Beim armen Brecht fängt das jetzt schon an.
profil: Alte Menschen denken oft an früher. Sie auch?
Schenk: Ich hatte mein Gedächtnis nie in der Hand. Das Auswendiglernen für Theaterrollen fiel mir immer schwer -unerklärlicherweise konnte ich aber meine Texte irgendwann. Ich war auch da in irgendeines Kobolds Hand. Den Kugelschreiber, den ich vor einer Minute in der Hand hielt, finde ich nicht mehr. Daneben kann ich Sätze aus meiner Kindheit zitieren und mich an winzige Details von damals erinnern. Ich war immer erregt von Kleinigkeiten, sei's beim Essen oder in der Kunst.
profil: Auch in der Politik?
Schenk: Hitler verpatzte sich in meiner Kindheit viel an Sympathie, weil ich den Hitlergruß so blöd fand. Über Mussolini konnte ich nur lachen und nicht begeistert sein wie so viele in meiner Umgebung. Man wollte mir die Faszination erklären, ich verstand sie nicht. Ich sagte immer nur: "Der riecht schlecht."
profil: Hitler oder Mussolini?
Schenk: Beide.
profil: Haben Sie Hitler als Bub gesehen?
Schenk: Einmal auf dem Balkon des Hotels Imperial an der Ringstraße. Er zeigte sich dem schreienden Volk. Ich empfand das Gekreische als peinlich und dachte an seinen sicher üblen Mundgeruch.
profil: Ihr Vater, der als Kleinkind getauft worden war, wurde von den Nazis zum Juden erklärt.
Schenk: Es hieß, mein Vater sei gemäß der Nürnberger Rassegesetze, die wie ein böser Geist über uns schwebten, Jude. Er verlor bald seine Arbeit als Notar und sämtliche Einkünfte. Ich wurde als privilegierter "Mischling" behandelt, weil ich in der Schule ein guter Turner und Schwimmer war, eine Art Aushängeschild. Als das große Morden begann, wurde meine Großmutter Rosalia im Juli 1942 mit knapp 92 gemeinsam mit meinem Onkel nach Theresienstadt verschleppt, wo sie kurz darauf starben. Ich hoffe, es war keine Gaskammer.
profil: Ihrem Vater verdanken Sie Ihr Leben.
Schenk: Ich war beim Deutschen Jungvolk und hätte einrücken müssen. Mein Vater sagte: "Zieh deine DJ-Uniform an und schau, dass dich möglichst viele Leute im Haus sehen, damit sie uns in Ruhe lassen." Wir führten ein Schwejk'sches Leben. Meine Mutter wurde von den Nazis gedrängt, sich scheiden zu lassen. Sie sagte nur: "Warum soll ich mich scheiden lassen? Weil mein Mann Jude ist?" Solche Äußerungen waren gefährlich volksverräterisch.
profil: Sie waren auf der Bühne in unzähligen Rollen zu sehen. Hätten Sie auch Hitler gespielt?
Schenk: Absolut. Ich hätte ihn glaubhaft und natürlich gespielt, keineswegs als Monstrum, sondern als den faden Menschen, als der er mir schon als Bub erschienen war. Hitlers Reden waren immer zu lang und zu einschläfernd. "Schon wieder dasselbe", stöhnte mein Vater und drehte den Volksempfänger ab.
profil: Harald Juhnke überschrieb seine Biografie: "Die Kunst, ein Mensch zu sein". Worin besteht diese Kunst?
Schenk: Man ist als Mensch in ein Schicksal geworfen, für das man nicht geschaffen wurde, das jeden von uns unsäglich alleine und egoistisch zurücklässt. Wir gehen auf die Gasse vor unserem Haus, und über uns wölbt sich ein Firmament von unendlicher Größe, für jeden Einzelnen von uns! Was für ein Luxus für einen Schöpfer, den es nie gab, wenn er Milliarden Menschen einen Horizont schenken kann! Bereits als Kind glaubte ich, ich sei ganz allein auf der Welt. Als Baby schon ärgert man sich, dass man überhaupt auf der Welt ist; man schreit ständig, ohne einen Grund dafür zu haben. Für den Rest seines Lebens ist man damit jeden Tag konfrontiert. Es ist kein Wunder, dass viele zu Verbrechern werden! Unter diesen Umständen ein anständiger Mensch zu bleiben, ist eine großartige Leistung, die selten anerkannt, geschweige denn belohnt wird.
profil: Sie seien nur die erste Viertelstunde nach dem Aufwachen glücklich, den Rest des Tages aber unglücklich, merkten Sie einst an.
Schenk: Inzwischen wache ich bereits unglücklich auf. Zwischen 80 und 90 wird man in einem einzigen Jahreszehnerschritt unsagbar älter, weil man plötzlich keine Zukunft mehr hat, an die man glauben kann. Man lebt nicht mehr, sondern es lebt mit einem. Man ist auch so gut wie jede Verantwortung los. Man schaut sich die Hand mit dem riesigen blauen Flecken an und kann sich nicht erinnern, wann man sich wehgetan hat. Man betrachtet seine Hand, als ob es die eines anderen wäre.
profil: Geht es im Leben vor allem um die Suche nach Glück?
Schenk: Man ist unfähig, andauernd unglücklich zu sein. Man ist ja manchmal glücklich, selbst im Krieg. Nach dem Luftangriff am Nachmittag meldet man sich bei den Freunden, ob sie noch am Leben sind. Wenn die vier Richtigen davongekommen sind, kann man eine Partie Bridge spielen. Mit Maske kann man selbst in Corona-Zeiten Bridge spielen.
profil: Hatten Sie ein gutes Leben?
Schenk: Eigentlich schon. Erstaunlich viel ist darin gut aufgegangen. Das Theaterspielen empfand ich von Beginn an als eine solche Schwierigkeit, dass jedes Gelingen für mich ein Riesenerfolg war, den ich mir nicht zugetraut hätte. Ich hätte mir auch nie zugetraut, einen Sketch mit Karl Farkas zu spielen, den "
Ring des Nibelungen" zu inszenieren.
profil: Jetzt sind Sie kokett. Sie arbeiteten immerhin mit Weltberühmtheiten wie Leonard Bernstein, Christa Ludwig, Anna Netrebko, Birgit Nilsson, Peter Zadek.
Schenk: Und jedes Mal wunderte ich mich, dass diese Größen von mir überhaupt etwas hatten. Mein Erfolg war, dass ich einen Nerv dafür entwickelte, diesen Begabten und oft Einsamen kleine Ratschläge anvertrauen zu können, die diese dann fast mit Gier fraßen, weil niemand sonst da war, der ihnen etwas zu sagen gewagt hätte.
profil: Sie sind Menschenfresser. Und Menschenkenner.
Schenk: Mein ganzes Leben widmete ich dem Menschenstudium, das ich nicht abschließen werde. Ich bin ein unvollendetes Werkl.
profil: Andere gehen mit 65 in Pension. Sie haben es in der Ruhe nie ausgehalten.
Schenk: Für mich gab es nie Ruhe. Das Leben war für mich genauso unruhig wie das Theater, das zumindest eine gewisse Rückschau und Übersicht erlaubte. Das Leben selbst nie.
profil: In der Bibel stirbt Hiob "lebenssatt". Wollen Sie auch so sterben?
Schenk: Ja. Ein gewisser Überfluss an Leben meldet sich schon, erste Aufstoßer des Sattwerdens.
profil: Denken Sie oft an den Tod?
Schenk: Der ist für mich schon lange kein Fremder mehr. Vielleicht wird er mich Mitte Juni besuchen. Am 12. Juni werde ich 90. Rund um die Geburtstagsfeierlichkeiten werden wir wohl auch noch einen Termin für den Tod finden.
profil: Wären Sie beleidigt, wenn man auf Ihrem Begräbnis lacht?
Schenk: Auf keinen Fall. Wenn man nicht lacht, würde ich in meiner Grube rot im Gesicht werden. Ich habe das Lachen immer verehrt. Lachen heißt kapieren, bevor man überhaupt nachdenkt. Ich möchte aber nicht auch noch mein Begräbnis inszenieren müssen, ich will keine Ratschläge geben.
profil: Was, wenn Wiens Bürgermeister in seiner Trauerrede Ihre Schauspielkunst in den Himmel lobt?
Schenk: Da hoffe ich dann doch, dass an meinem Grab viele herzhaft lachen werden.