profil-Morgenpost: Ostern, Corona und der König der Tiger
Kennen Sie das, diese paar Sekunden nach dem Aufwachen, in der die Welt mehr oder weniger in Ordnung, nicht völlig aus den Fugen erscheint? Sie sich, schlaftrunken und nach dem ersten Kaffee sehnend, höchstens darüber Gedanken machen würden, in welcher Reihenfolge Sie Eltern, Verwandte und Freunde über das Osterwochenende besuchen würden – und wie Sie am besten den überlasteten Heimreiseverkehr vermeiden könnten?
Doch im Frühjahr der Trennscheiben und Mund-Nasen-Schutzmasken, erratischer Ausgangs- und Kontaktsperren, das eher einem Drehbuch von David Lynch zu folgen scheint, müssen Sie sich zumindest über zu viel Nähe und einen kollektiven Feiertagskoller keine Gedanken machen. Denn wenn eines am Ende der vierten Woche des Corona-Shutdown-Alltags klar ist, dann dies: Nichts ist, wie es scheint – und das Leben, wie wir es kennen, wird womöglich nie wieder so sein, wie es ohnehin nie war.
So wenig, wie man sich die aktuelle Lebensrealität jemals hätte ausmalen können, so wenig hätte man sich ausdenken können, was man in der Doku-Serie „Tiger King“ zu sehen bekommt. Die aberwitzige Netflix-Produktion (deutscher Titel: „Großkatzen und ihre Raubtiere“), die in Zeiten des Corona-Eskapismus weltweit zur Streaming-Droge Nummer eins mutiert, folgt über mehrere Jahre dem Treiben von Joe Exotic, einem umtriebigen Raubierzüchter und Privatzoobesitzer in den USA. Dazu muss man wissen: In den Vereinigten Staaten leben weit mehr Tiger hinter Gittern, als im Rest der Welt in freier Wildbahn.
Doch wie konnte der schwule Redneck mit Vokuhila, der aktuell eine 22-jährige Haftstrafe abzusitzen hat, der Waffennarr und Country-Sänger, der seit Wochen in Millionen Memes über das Internet gestreut wird und für den unter US-Präsident Donald Trump um Begnadigung angesucht wurde, zum Corona-Star werden? Eric Goode, neben Rebecca Chailkin eine der Regiekräfte hinter der siebenteiligen True-Crime-Serie, erklärte sich die Faszination für den König der Tiger in einem „Rolling Stone“-Interview damit, dass die porträtierten Menschen fast interessanter erscheinen als die imposanten Raubtiere.
Vielleicht ist der Grund für die Popularität von „Tiger King“ aber noch banaler. Wenn die eigene Realität die Fiktion überholt, finden wir Menschen Trost und Ablenkung in einer Welt, die die eigene Lebenswirklichkeit zumindest einen Deut weniger absurd erscheinen lässt – und der kollektive Fernsehmoment wird zum Ventil für eine Situation, die sich ohnehin nicht ändern lässt.
Wir wünschen Ihnen ein schönes Osterwochenende – mit oder ohne Joe Exotic. Alles wird gut.
Philip Dulle
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