"Die Situation wird sich erst verbessern, wenn wir gegen die Wand gefahren sind"
Der Bestsellerautor Ilija Trojanow ist der Kosmopolit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ein Gespräch über Klimakatastrophe, Krieg, Corona - und über falsche Freiheiten, die uns noch einengen werden.
Länder und Kontinente spielten und spielen im Leben und Arbeiten Ilija Trojanows schon immer einewichtige Rolle. Der Schriftsteller, Übersetzer, Verleger und Kolumnist wurde 1965 in Bulgarien geboren. Kurz vor seiner Einschulung floh die Familie über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie in München politisches Asyl erhielt; von 1971 bis 1984 lebte Trojanow in Kenias Hauptstadt Nairobi - unterbrochen voneinem erneuten dreijährigen Deutschland-Aufenthalt; 1998 übersiedelte er für einige Jahre nach Bombay, 2003 nach Kapstadt. Derzeit lebt und arbeitet Trojanow in Wien. Ideale Voraussetzungen für ein Gespräch über eine Welt im Wandel.
Herr Trojanow, es droht die Klimakatastrophe, in der Ukraine tobt der Krieg, und die Pandemie ist längst nicht ausgestanden: Wo soll man bloß beginnen, über das Jahr 2022 zu reden?
Trojanow
Man muss an einer beliebigen Stelle anfangen. Das Setzen eines Anfangs und eines Endes ist Teil der menschlichen Fiktion, die mit der Realität eh wenig zu tun hat.
Welches Thema drängt sich Ihnen dennoch auf?
Trojanow
Ehrlicherweise sind es die privaten Angelegenheiten, die einem am meisten zusetzen. Etwa die Krebserkrankung meines Vaters und Begegnungen mit Menschen, vor allem auf der ersten Reise seit Covid in die USA. Während der Pandemie fand ich mit einer ungeahnten Intensität zur Musik, das hat mein Leben essenziell bereichert. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich an manchen Tagen des abgelaufenen Jahres jegliche Nachrichtenformate vermieden. Zu manch einer trüben Stunde leistete ich es mir, ein nicht ganz so gut informierter Bürger zu sein.
Empfanden Sie keinerlei Sehnsucht nach Breaking News?
Trojanow
Nachrichten sind die ewige Wiederkehr einer sich penetrant gebärdenden, mangelnden Einsicht. Siehe Klimakatastrophe und die tägliche Brutalität des Krieges in der Ukraine. Als Schriftsteller ist es mir besonders bewusst, dass es narrative Bögen braucht, an deren Ende Hoffnung und Erlösung stehen. Erkenntnis wäre vielleicht schon zu viel verlangt. Ohne solche Aussichten bleibt uns bekanntlich nur die Metapher der Hölle: Tag für Tag das gleiche Grauen. Vielleicht werden sich die Umstände in der Ukraine aber auch schnell ändern. Ich wurde beschimpft und verunglimpft, weil ich mir erlaubt habe, darauf hinzuweisen, dass Kriege irgendwann in Friedensverhandlungen münden müssen. Keine Kriegsseite wird in der Ukraine siegen. Friedensverhandlungen werden sein müssen.
Der Journalismus ist mit dem Attribut "historisch" schnell bei der Hand. Was war für Sie 2022 historisch?
Trojanow
Seit ich zurückdenken kann, ist jedes zweite Jahr irgendetwas angeblich historisch. Sie können mich mit dem Begriff "Zeitenwende" jagen. Dieser hat mehr mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit zu tun als mit der seriösen Analyse der inhärenten Widersprüche des globalisierten Kapitalismus. Die ökologische Zerstörung ist längst eine Art Perpetuum mobile. Der Raubbau an Klima und Natur wird jedes Jahr schlimmer. Eine Wende ist nicht in Sicht. Ich bin passionierter Schwimmer. Eine Wende beim Schwimmen bedeutet, dass man am Beckenrand umdreht und in die andere Richtung schwimmt. Wir planschen dagegen kopflos im Becken herum.
Trojanow dürfte der einzige deutschsprachige Autor sein, der sowohl Speerwurf wie Weitsprung, Kugelstoßen und Tischtennis auf hohem Niveau beherrscht. Für den Selbstversuch "Meine Olympiade" (2016) setzte er sich jedenfalls ehrgeizige Ziele: ein Amateur, 80 Disziplinen, vier Jahre Vorbereitung. Trojanow trainierte alle Olympia-Sommer-Einzeldisziplinen, um jeweils halb so gut abzuschneiden wie die jeweiligen Goldmedaillengewinner zwischen den Sommerspielen in London und Rio de Janeiro 2016. Der Mensch, schreibt Trojanow in "Meine Olympiade", sei für längere Aufenthalte im Wasser nicht geschaffen: "Wenn er schwimmt, begibt er sich in ein fremdes Element. Es ist eine gute Weile her, dass unsere Vorläufer an Land gekrochen sind."
Wie werden wir in, sagen wir, 20 Jahren auf 2022 zurückschauen?
Trojanow
Wenn die Entwicklung weiter so beschissen vorangeht, werden wir überhaupt nicht zurückschauen können! Mein persönliches Fazit dieses Jahres lautet: Die Situation wird sich erst verbessern, wenn wir gegen die Wand gefahren sind. Dann ist der SUV kaputt, und wir werden zu Fuß heimgehen. Meine Hoffnung auf eine vernünftige Gesellschaft, die aufgrund der schieren Notwendigkeit einer ökologischen Transformation die richtigen Schlüsse zieht, damit die entsprechenden Um-und Neugestaltungen endlich beginnen können, hat sich verflüchtigt. Sollten wir wie gewohnt weiterwursteln, werden wir an jenen Punkt kommen, an dem sich die meisten Bürgerinnen und Bürger mit heute noch unvorstellbaren Zwängen konfrontiert sehen werden. Zwänge, denen wir einstweilen freiwillig entgehen könnten.
Wie muss man sich das vorstellen?
Trojanow
Vor der Pandemie lebte ich in Kapstadt und habe erlebt, was es bedeutet, zeitweilig kein Wasser und keinen Strom zu haben. Ohne jede gesellschaftliche Diskussion wird ordnungspolitisch rationiert. Keiner jammert: Ich möchte aber meinen Swimmingpool füllen! Mit einem Schlag erledigen sich die rhetorischen Blindgänger unserer lethargisch geführten ökologischen Diskussion. Mit einem Schlag alles weg! Laut Lenin ist die Einsicht in die Notwendigkeit die Definition von Freiheit. Meiner Meinung nach entspricht dies dem Gegenteil von Freiheit. So wie es aussieht, werden wir unfreiwillig in die Rationalität getrieben werden. Die Natur wird uns dazu zwingen.
Dagegen argumentiert die Wissenschaft: Viele der ökologischen Probleme werden durch neue Erfindungen und Innovationen beseitigt werden.
Trojanow
Das ist der Wahn der technischen Machbarkeit: Es heißt ständig, in diesem oder jenem heiklen Bereich werde uns schon noch was einfallen. Seit ich zurückdenken kann, wird uns der große Durchbruch beim Wasserstoff oder der Kernfusion in Aussicht gestellt. Inzwischen ist längst klar, dass sich technische Alternativen aufgrund unserer komplexen Wirtschafts-und Lebensweise nur langsam umsetzen lassen. Seit wann kennen wir Windkraft? Nicht nur unser Verbrauch, auch die drängenden Probleme erfahren eine exponentielle Entwicklung. Wir aber haben nur kleine Lösungsvorschläge parat. Gleichzeitig ermöglicht die Medizin, dass viele von uns länger leben können. Merkwürdig: Unsere Lebenserwartung tendiert Richtung Unsterblichkeit, während wir den Planeten zusehends sterblicher machen.
Wäre der Verzicht die mögliche Lösung vieler unserer Probleme?
Trojanow
Wir reagieren allergisch auf alles, was nach Verzicht klingt. Die Pathologie unserer Zeit ist, dass wir Genuss mit Konsum gleichsetzen oder verwechseln. Wir haben einen Automatismus des Verbrauchens internalisiert, der den Genuss nicht mehr als qualitative Instanz betrachtet. Es geht nur mehr um die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, indem man irgendwas kauft.
Kein Wunder, wir leben in hedonistischen Zeiten.
Trojanow
Ein Hedonist genießt mit wachem Bewusstsein und großer Aufmerksamkeit. Deshalb sind wir keine hedonistische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die 43 Prozent ihrer Nahrungsmittel in den Müll wirft, ist keine Genussgesellschaft. Wir halten das Versprechen des vollständigen, allumfassenden Konsums aufrecht, jederzeit und überall. Was eine völlig überflüssige Verheißung ist, die mit dem Glücksempfinden des Einzelnen nichts zu tun hat.
Auf dem weiten Feld der Sinnenfreuden ist Trojanow ein ausgezeichneter Ratgeber. Er ist ausgebildeter Sommelier, schätzt gutes Essen, klassische Musik - und die anarchische Vielfalt des Denkens. Die Neugierde treibt ihn um. "Wenn ich Interesse habe an dem, was existiert, habe ich Interesse an dem, was sein könnte", notiert er in dem Bändchen "Neugier":"Vorwitzig kann ich mir mehr Schönheit und Gerechtigkeit, mehr Erhaltung und Freiheit herbeisehnen."
Es werden also auf jeden von uns von der Politik verordnete Zwänge zukommen, sollte die Entwicklung weiter so negativ verlaufen?
Trojanow
Basisdemokratie ade, willkommen Zwangsverordnung! Der große Denkfehler des gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Establishments ist es, jede radikale Kritik an den Formen unseres Lebens und Wirtschaftens mit dem Hinweis abzubügeln, dies führe in die Ökodiktatur. Dabei stimmt das Gegenteil: Ein Weiter-so wird unweigerlich in Umweltkatastrophen münden, die wiederum mit Sicherheit zu einer Diktatur führen, weil wir zentralistisch regiert und fremdbestimmt leben werden.
Das sichtbare Zeichen dafür sind derzeit die umstrittenen Klimakleber der Letzten Generation....
Trojanow:
... die inzwischen schon als "Extremisten" bezeichnet werden. Diese Aktionen sind Pipifax im Vergleich zu jenen aufgebrachter Bauern, die mit ihren Traktoren und Misthaufen Bundesstraßen blockieren. Haben Sie jemals gehört, dass diese Bauern als "Extremisten" bezeichnet wurden?
Die Verwirrung der Begriffe hat 2022 zugenommen. Es wird von neuen Krisen geredet, dabei sind unsere wirklichen Krisen alt.
Trojanow
Es wird, wie bei jedem Krieg, das Wort "Freiheit" in absurder Weise missbraucht. "Freiheit" als propagandistisch-demagogischer Begriff, um bestimmte Positionen zu rechtfertigen. Der große Vorteil des Älterwerdens ist, dass man sich an den einen oder anderen Krieg erinnern kann. Die Argumente für eine starke Militarisierung der EU klingen in meinen Ohren alt. Für die Ukraine selbst sind Waffen wichtig. Erst in zweiter Linie wird jedoch darauf hingewiesen, dass auch Deutschland und der Rest der Europäischen Union in nie gekanntem Ausmaß aufrüsten werden -was der Ukraine nichts nützt. Denn bis diese Investitionen greifen, wird der Krieg vorbei sein. Also planen wir weiterhin, Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, und der Krieg verbraucht die Ressourcen, die für seine Abschaffung nötig wären.
Zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele hielt Trojanow eine viel beachtete Festrede ("Der Ton des Krieges, die Tonarten des Friedens"). Er hob mit Tschaikowski, Bach und Stalin an und vermaß von dort aus das Verhältnis von Kunst und Macht, von Krieg und Kultur und formulierte als Fazit einen Aufruf: "Desertieren wir also aus der Eintönigkeit des Krieges in die Vieltönigkeit der Kunst!"
Als Autor sind Sie eine öffentliche Figur. Wie gehen Sie mit diesem Rollenfach um?
Trojanow
Ich gebe nicht überall meinen Senf dazu. Wenn ich mich äußere, dann in dem Sinne, dass ich mich befähigt fühle, etwas beizusteuern. Ich kenne beispielsweise nicht so viele Leute, die weite Teile Afrikas und Asiens aus eigener Anschauung kennen. Zugleich impliziert die Tatsache, dass ich Sierra Leone kenne und Sie zum Beispiel den Bregenzerwald, keinerlei qualitative Abwägung. Problematisch wird es, sobald Intellektuelle glauben, sie können mit dem magischen Gewand ihres Weltblicks alles erklären.
"Kulturelle Aneignung" war ein weiteres Stichwort 2022. Dürfen Sie als Europäer überhaupt über Afrika schreiben?
Trojanow
Ich kenne viele Afrikanerinnen und Afrikaner, die sich diese Frage noch nie gestellt haben. Im Gegenteil. In all den Jahren des Publizierens und Übersetzens afrikanischer Texte habe ich immer nur gehört: Großartig, dass das jemand macht! Das Argument der unethischen Aneignung kommt oft von Leuten, die hierzulande versuchen, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Diese Diskussionen haben viel mit der eigenen Positionierung im Betrieb zu tun.
Afrika, Asien und Osteuropa, das sind Trojanows bevorzugte Erzählgebiete. Aus Indien schrieb er Reportagen und Essays für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "Süddeutsche Zeitung" und die "Neue Zürcher Zeitung". Als Autor debütierte er 1993 mit dem Buch "In Afrika. Mythos und Alltag Ostafrikas". 1996 erschien sein erster Roman, dessen Titel sprichwörtlich geworden ist: "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall". Über Bulgarien folgte 1999 der Essay "Hundezeiten. Heimkehr in ein fremdes Land". Trojanows Roman "Der Weltensammler", der 2006 monatelang die Bestsellerlisten in Deutschland, Österreich und der Schweiz dominierte, war unter anderem Resultat eines dreimonatigen Fußmarsches durch Tansania auf den historischen Spuren des englischen, 1890 verstorbenen Entdeckers und Orientalisten Richard Francis Burton. In "Macht und Widerstand" (2015) entfaltete Trojanow nach "Hundezeiten" ein breites zeitgeschichtliches Panorama Bulgariens. Im Herbst 2023 soll "Tausend und ein Morgen" erscheinen, Trojanows neuer Roman als große Utopie.
1996 veröffentlichten Sie Ihren ersten Roman: "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall". War die Welt damals noch in Ordnung?
Trojanow
Keineswegs. Das ist ein Satz der Widersprüche und Widerhaken. Ich bin Optimist, aber nicht kurzfristig. Wer sich in der Menschheitsgeschichte halbwegs auskennt, kann das nur auf langer Strecke sein.
Seit knapp 300 Tagen herrscht in der Ukraine Krieg. Versagt da nicht jeder Optimismus?
Trojanow
Als Universalist und Kosmopolit mache ich keinen Unterschied zwischen dem Krieg in der Ukraine und jenem in Syrien, in Jemen, im Irak und so weiter. Ich leide mit und finde die Bilder unerträglich. Ich habe Probleme mit jenen Zeitgenossen, welche die Zerstörung Aleppos achselzuckend hinnahmen und nun die Bombardierung von Cherson und Charkiw als Menschheitskatastrophe betrachten. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe Schwierigkeiten damit, dass die Flüchtenden aus der Ukraine Flüchtende erster Klasse sind und die Afrikanerinnen getrost im Mittelmeer ertrinken dürfen.
Welche Erklärung haben Sie also?
Trojanow
Es herrscht momentan ein regelrechter Wahn unreflektierter Solidarität. Natürlich ist es wichtig und gut, dass wir solidarisch sind. Unterstützung der Ukraine ist geboten. In zweiter Linie sollte man sich aber fragen, welche Unterstützung die beste ist: Dazu braucht es eine gewisse selbstkritische Distanz zu unserer Euphorie, die viele Leute schreien lässt: "Slawa Ukrajin!" - Ruhm der Ukraine! Sie könnten auch rufen: "Frieden für die Ukraine!" - "Freiheit für Russland!" Mit Ruhm und Glorie kann ich wenig anfangen. Die Art und Weise, wie wir uns gegenüber diesem konkreten Krieg positionieren, zeigt auch, inwiefern wir gewisse ethische Grundsätze beherzigen oder wetterwendisch betroffen sind, weil sich dieser Krieg geografisch näher bei uns abspielt und weil die Menschen, die zu uns flüchten, so ähnlich aussehen wie wir. Das sind Motive, die mir suspekt sind.
Was meinen Sie mit "Freiheit für Russland?"
Trojanow
Ich bin absolut dafür, dass die Diktatur und Oligarchie in Russland gestürzt werden muss. Das wird meines Erachtens nur passieren, wenn sich eines Tages das russische Volk befreit, was ihm historisch betrachtet schon einige Male geglückt ist. Ich sehe keinen Grund, weshalb das nicht wieder passieren sollte. Aber das wird dauern. Es gab im Kalten Krieg die westlichen Kremlogen, die aus den Innereien der Fische die Zukunft der Kommunistischen Partei lasen: "Herr Soundso steht 30 Zentimeter hinter dem Generalsekretär! Ergo ist er in Ungnade geraten!" Wir erleben die Rückkehr solcher Kremlogen: Sie versuchen aus der Distanz am Besprechungstisch zwischen Putin und seinem Verteidigungsminister relevante Bedeutungen abzulesen. Das ist belanglos. Die Revolution wird wie immer unvermittelt kommen, und die Kremlogen werden sie nicht vorhersehen.
In Ihrer Eröffnungsrede zu den diesjährigen Salzburger Festspielen sprachen Sie davon, dass die Fernsehbilder aus dem Krieg abstumpfen, gegen die Aufschreie der Kunst jedoch kein Immunisieren möglich sei. Wie lange noch?
Trojanow
Was abstumpft, ist die Emotionalisierung. Gefühle dagegen können nicht abstumpfen, weil sie den Menschen mit dem verbinden, was das Leben ausmacht: Liebe, Trauer, Füreinander-Dasein. Wir stumpfen leider langsam ab, wenn wir wieder eine Meldung lesen, dass ein Krankenhaus in der Ukraine von russischen Raketen getroffen worden ist. Zugleich las ich kürzlich Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" wieder, der mit dem Ersten Weltkrieg endet, und zwar in der Ukraine. Kein Fernsehbild kann das Grauen des Krieges derart intensiv vermitteln wie ein großer Romancier.
Was ist Ihr Ärgernis des Jahres?
Trojanow
Wie viel Zeit haben Sie? Nehmen wir die rückgratlosen österreichischen Grünen, die, um an der Macht zu bleiben und ihre Diäten zu erhalten, in der Koalition alles abnicken und alles geschehen lassen - und sich zugleich als progressive Partei gebärden. Das ist lächerlich. Wie soll man das nennen? Zynischer Opportunismus? Kolossale Dummheit? Eine Mischung aus beidem? Man ärgert sich mehr über Leute, von denen man ein bisschen was erwartet hat. Wie soll ich mich über Sebastian Kurz ärgern? Von vornherein ein gelackmeierter, selbstzentrierter, ohne jeglichen Inhalt agierender Karrierist?
Sie gelten als Musikkenner und -liebhaber. Was war Ihr schönstes Musikerlebnis 2022?
Trojanow
Das Programm des Theaters an der Wien unter der neuen Leitung von Stefan Herheim ist spannend und vielversprechend. Vielleicht finden dadurch mehr Menschen zur Oper. Mir ist unklar, wieso Oper ein Minderheitenprogramm ist. Dabei ist es das künstlerische Rundum-Versorgungspaket. Lachen und Weinen, Musik, Tanz und Gesang. Alles vorhanden, von allem ein bisschen was.
Der Komiker Loriot liebte ebenfalls die Oper, allerdings gefiltert durch Witz.
Trojanow
Der gute Loriot! Es ist so wichtig, sich selbst und seine Leidenschaften nicht zu ernst zu nehmen. Das Suhlen in den eigenen Ressentiments ist eine Qual. Siehe das Beispiel Thomas Bernhard. Negative Onanie erschöpft sich schnell. Ein humorvoller satirischer Zugriff benötigt neben dem kritischen auch ein liebendes Auge.
"Trojanow trifft " lautet eine Gesprächsreihe, die Sie leiten. Wo trafen Sie 2022 nicht ins Schwarze?
Trojanow
Bei meinen Texten kann ich mich spontan an keinen Moment des nachträglichen Schämens erinnern. Eher in anderen Bereichen. Ich bin nicht gut durch Corona gekommen, habe mich zu häuslicher Lethargie verleiten lassen.
Sie sprechen über Flanellpatschen?
Trojanow
Unter anderem. Zu viel getrunken, zu viel gegessen, zu viel rumgehockt. Ich will unbedingt wieder zu meiner früheren Dynamik zurück.
Indien bezeichnete Trojanow einst als "Land des kleinen Glücks". Auch über den Tod hinaus?
Wie hoch schätzen Sie das Risiko einer Wiedergeburt ein?
Trojanow
Bei 0,0 Prozent, zum Glück. Gangster und Oligarchen hingegen werden laufend wiedergeboren. Eine Epidemie der Wiedergeburt! Die Trauer angesichts des Todes hat ja damit zu tun, dass jeder wertvolle und würdevolle Mensch unersetzbar ist. Es nicht schwierig, unersetzbar zu sein: Eine gewisse Verlässlichkeit hinsichtlich der eigenen Ideale, eine gewisse Empathie und Solidarität mit seinen Mitmenschen, eine gewisse Eigenwilligkeit im Denken und Handeln -schon ist man ein interessanter und wertvoller Mitmensch.