„Schön, reich und berühmt, das ist mir Gott sei Dank gelungen. Können wir uns darauf verständigen?“
Von Wolfgang Paterno
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Herr Kerkeling, darf man Sie neuerdings „Hochwohlgeboren“ nennen?
Kerkeling
Das kann man durchaus! Man darf mich sogar „Illustrer“ rufen, weil der spanische König mich zum Komtur ernannt hat. Ich bin Träger des Komturkreuzes! Illustrer oder Hochwohlgeboren – kommt am Ende ohnehin aufs Gleiche hinaus.
In Ihrem neuen Buch „Gebt mir etwas Zeit“ verweben Sie lustvoll eigene Erinnerungen mit Ahnenforschung. Unter anderem haben Sie herausgefunden, dass Sie auf Platz 111 der britischen Thronfolge stehen …
Kerkeling
… was sehr enttäuschend ist.
Die deutsche Boulevardzeitung „Bild“ dürfte bald titeln „Kann Kerkeling König?“
Kerkeling
Die Frage bleibt im Buch unbeantwortet. Der „Bild“ gegenüber würde ich sagen: „Selbstverständlich kann ich König!“ Da Sie aus dem neutralen Österreich kommen, will ich Ihnen aber die Wahrheit verraten: Nein, das könnte ich nicht. Das kann nur einer.
Ein weiteres Ergebnis Ihrer genetischen Ahnenforschung ist die Zahl von über 4000 entfernten DNA-Verwandten. Ein imaginäres Treffen der Großsippe Kerkeling stelle ich mir überaus lebhaft vor.
Kerkeling
Es wäre eine ganz schön bunte Truppe! Ich schätze, es wären 1000 Personen im Saal, die direkt mit den Kerkelings verwandt sind. Die restlichen 3000 Verwandten wären den jeweiligen Großeltern zuzuordnen. Wie gerne würde ich den Variantenreichtum der versammelten Verwandtschaft sehen! Es können ja nicht alle so tumbe Bauernlümmel wie ich sein. Da muss einfach der eine oder andere helle Kopf dabei sein, hoffe ich zumindest.
Der Religionsreformer Martin Luther säße beispielsweise mit am Tisch, wie Sie für „Gebt mir etwas Zeit“ herausgefunden haben.
Kerkeling
Herr Luther ist auf der Seite meines Großvaters mütterlicherseits mein direkter Vorfahre – ich wiederum bin einer der 50.000 direkten Nachfahren Luthers. Das habe aber nicht ich herausgefunden, sondern die Lutheriden-Vereinigung, welche die Nachkommen Luthers erforscht. Nachdem Professor Alt, einer der Vorstände, mich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, war er enttäuscht darüber, dass ich nicht in einen Freudentaumel ausgebrochen bin, als hätte ich einen Sechser im Lotto gewonnen, sondern schlicht entgegnete: „Was, mit Luther?“ Bei Luthers vielen Kindern und Kindeskindern ist das nichts Außergewöhnliches.
Was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Ahnenrecherche ergeben hätte, dass Sie beispielsweise mit Dschingis Khan verwandt wären?
Kerkeling
Wenn man solch eine Forschung ergebnisoffen beginnt, schwingt immer ein bisschen Angst mit: Um Himmels willen, was könnte ich entdecken? Irgendwann landete ich im Jahr 1620 bei meinen Amsterdamer Vorfahren, unter denen sich auch ein Sklavenhändler hätte finden können. Ich hatte Glück, dass er nur Bordellbetreiber war.
Der Schriftsteller Heimito von Doderer behauptete, wer sich in Familie begebe, komme darin um. Weshalb spürten Sie den Geschichten Ihrer Ahnen bis ins 17. Jahrhundert nach?
Kerkeling
Es gibt Sachen, die einem in die Wiege gelegt sind. Bei mir ist es die Suche nach Vorfahren, was auch mit der exzentrischen Truppe zusammenhängen mag, die meine Ahnen sind. Die eine Großmutter mütterlicherseits hat französisch-niederländisch-italienische Wurzeln, deren Mann wiederum baltisch-schwedische. Dazu kommt die niederländische Seite der Kerkelings. Bei meiner anderen Großmutter findet sich viel Böhmisches, Mährisches, Österreichisches.
Was entgegnen Sie Doderer?
Kerkeling
Er hat recht, die Gefahr besteht. Ich glaube ja tatsächlich daran, dass es so etwas wie Familien-Mottos und Wünsche gibt, die über einer Sippe liegen, die uns fordern und herausfordern. Was passiert mit den Glaubenssätzen, die eine Familie über Jahrhunderte hinweg weitergibt? Was macht das mit uns?
Sie schreiben, dass viele Ihrer Ahnengeschichten in Ihr eigenes „verrücktes Leben“ passen würden. Was darf man sich darunter vorstellen?
Kerkeling
Jeder lebt sein eigenes Leben. Für den einen ist das richtige Leben ein Dasein als Bürokaufmann, was für einen anderen eher suboptimal wäre. Ich habe stets allerhand Unterschiedliches getrieben – Fernsehen, Kino, Bücher, Synchronisation. Insofern darf ich mit Fug und Recht behaupten, es war und ist ein verrücktes Leben, auf das dieser buntscheckige Stammbaum wie die Faust aufs Auge passt. Die Verrücktheit hält übrigens an, ist längst nicht zu Ende. Die Ahnenforschung kennt ebenfalls keinen Abschluss. Mein gesamter Stammbaum umfasst 20.000 Mitglieder. Das lässt sich endlos weiterführen.
Sind am Ende sogar wir beide miteinander verwandt?
Kerkeling
Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Unsere aller Urahnin war bekanntlich Oma Lucy, eine fidele Wandersfrau, die vor gut drei Millionen Jahren vom Kilimandscharo aus Richtung Norden aufbrach. Irgendwo zwischen Kenia und Uganda hat Oma dann Opa getroffen. Ob es Liebe auf den ersten Blick war, lässt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Ich habe ein gutes Gefühl, Herr Paterno. Herzlich willkommen in der Familie!
Ihr Nachname stammt aus dem Niederländischen und bedeutet übersetzt „Kirchgänger“. Wie passt das zum Verrücktsein?
Kerkeling
Kerkeling hat viel Braves und Ordentliches, was gar nicht so schlecht zu mir passt. Es ist ein Fantasiename, den sich der Schöpfer des Namens selber gegeben hat, quasi ein Pseudonym. Ursprünglich hieß die Familie Kerkering, was so viel wie „Kirchner“ bedeutete. Dann wanderte die Sippe von Lübeck nach Amsterdam aus und befand, dass Kerkering ein ziemlicher Zungenbrecher für die Holländer sei, zudem war da immer auch die Assoziation mit „Kerker“. Mein Urahn hat sich mit dem neuen Namen zugleich ein frisches Branding verschafft. In den Niederlanden muss ich meinen Namen nie buchstabieren. Der geht jedem Holländer runter wie Butter.
In „Gebt mir etwas Zeit“ schlagen Sie auch ernste Töne an, unter anderem in der Erzählung von Duncan, einer Ihrer großen Lieben. Duncan starb 1989 in der Frühzeit von Aids an der Immunschwächekrankheit.
Kerkeling
Ich wollte Duncan ein Denkmal setzen. Die Liebesgeschichte mit ihm bindet mich auch an meine Lieblingsstadt Amsterdam.
Haben Sie das Trauma seines frühen Todes einigermaßen verarbeiten können?
Kerkeling
Bereits in meiner Autobiografie „Der Junge muss an die frische Luft“ machte ich folgende Erfahrung: Wenn man ein Trauma beschreibt – in diesem Fall der Suizid meiner Mutter –, zwingt man diesen unruhigen Geist, der solch ein Trauma ist, irgendwie in eine Fassung, in eine Form. In „Gebt mir etwas Zeit“ wagte ich mich an dieses zweite große Trauma heran.
Sie erinnern in Ihrem Buch auch an die Abscheu vieler Menschen gegenüber der Immunkrankheit und an die Ausgrenzung von Homosexuellen. Wo stehen wir 40 Jahre nach der Entdeckung von Aids?
Kerkeling
Rasend viel hat sich nicht getan. Immerhin wurde in Deutschland und Österreich einiges unternommen. Es gibt nun eine Gesetzgebung, wie in den Niederlanden bereits vor 20 Jahren. Zugleich wurden jedoch noch nie so viele Anfeindungen und Gewalt gegen homosexuelle Menschen und People of Color registriert wie im Moment. Das ist in der Tat besorgniserregend.
Empfinden Sie es als Notwendigkeit oder als Mut, über diese Formen der Diskriminierung zu schreiben?
Kerkeling
Ich wünsche mir, dass Leserinnen und Leser gemeinsam mit mir durch diese leidvolle Erfahrung gehen, vielleicht sogar ähnliche Schlüsse daraus ziehen, ohne dass sie selbst dieses Leid durchmachen müssen. Einer der Punkte, die sich mir damals offenbarten: Jeder Moment des Lebens ist kostbar. Damit sage ich nichts Neues. Dennoch lernte ich, dass man nichts aufschieben, die Dinge gleich tun sollte. Dass in traurigen Momenten, selbst wenn man denkt, es kann kein Licht mehr geben, die Seele sich nach Licht sehnt, dieses sucht. Auch dunkle Momente tragen den Schimmer der Hoffnung in sich.
Das Klischee besagt, Clowns seien im Innersten traurig.
Kerkeling
Das Bild vom traurigen Clown ist ein ganz fürchterliches. Ich bin kein trauriger Mensch, eher als fröhlicher Zeitgenosse angelegt. Wenn man in dunklen Zeiten auf die Bühne geht und es einem gelingt, das Publikum zum Lachen zu bringen, kommt unfassbar viel vom Publikum zurück; die Überwindung, die man benötigt, um Menschen zum Lachen zu bringen, macht die eigene Traurigkeit wett.
Kerkeling hat viel Braves und Ordentliches, was gar nicht so schlecht zu mir passt. Es ist ein Fantasiename, den sich der Schöpfer des Namens selber gegeben hat, quasi ein Pseudonym.
Der Schlagersänger Roberto Blanco behauptet: „Ein bisschen Spaß muss sein, dann ist die Welt voll Sonnenschein.“
Kerkeling
Der Spruch ist klüger, als man annehmen sollte.
Laut „Gebt mir etwas Zeit“ vereinen Sie etliche Berufe und Charaktereigenschaften Ihrer Vorfahren in sich: Forscher, Erfinder, Entdecker, Kaufmann, Spinner, Revolutionär, Kaffeetrinker …
Kerkeling
Der Kaffeetrinker ist genetisch definiert. Die Holländer trinken von morgens bis abends Kaffee. Ich dachte immer, es wäre meine Wahl gewesen, dass ich mich für dieses Getränk entschieden habe. Nein, dieses Getränk hat sich für mich entschieden.
Was ist mit dem Spinner?
Kerkeling
Natürlich möchte ich meine Leserinnen und Leser in Staunen versetzen. Dabei kommt manchmal der Spinner ins Spiel.
Verlieren Sie zuweilen den Überblick, welche Persona in Ihnen gerade dominant ist?
Kerkeling
Alle haben die gleiche Stimme, dieselben Gedanken. Insofern gibt es wenige Unterschiede. Es ist oft eine Frage des Moments. Würden wir beide – was wir natürlich nicht tun werden – über Politik reden, säße hier nur noch der Revoluzzer am Tisch. Das wollen wir nicht. Deswegen bleiben wir beim Kaffeetrinker.
Um den Revoluzzer in Ihnen dennoch kurz wach zu kitzeln: Würde er vielleicht feststellen, dass die Politik viele ihrer Agenden vernachlässigt, um unser aller Zusammenleben besser zu machen?
Kerkeling
Das klingt sehr nach dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Wenn Sie so weitermachen, gehe ich gleich auf die Barrikaden.
Sie haben viele Versionen Ihrer selbst in die Welt gesetzt. Gibt es hinter Ihren vielen Figuren so etwas wie den wahren Hape Kerkeling?
Kerkeling
In meinen Büchern bin ich am meisten ich selbst. In diesen ist das Spektrum meiner selbst am besten aufgehoben. Ich fühle mich am besten dargestellt, wenn ich mich selber darstellen kann.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Als Heranwachsender dachte ich immer: Wenn ich erst mal schön, reich und berühmt bin, dann werden alle meine Probleme mit einem Schlag gelöst sein.“
Kerkeling
Schön, reich und berühmt, das ist mir Gott sei Dank gelungen. Können wir uns darauf verständigen?
Ich sitze also einem glücklichen Mann gegenüber.
Kerkeling
Ja, schon. Das hat aber weniger mit Schönheit zu tun.
Sie schreiben auch: „Warum hat mir damals bloß niemand mal direkt ins Gesicht gesagt, wie bombig ich eigentlich aussehe und wie unfassbar viele, schöne Haare ich habe!? Süß, knuffig, niedlich.“
Kerkeling
Ich sagte es bereits: Der schlicht gestrickte Bauernlümmel ist auch in mir manchmal vorhanden. Vielleicht war es aber auch gut so, wie es damals war.
Der Regisseur Werner Herzog behauptet, es gebe keine Wahrheit in der Erinnerung. Würde Sie ihm zustimmen?
Kerkeling
Ja. Aber in der Erinnerung schlummert die Wahrheit. Und da die Erinnerung abgeschlossen ist, lässt sich die Wahrheit nicht aufwecken. Es kommt auch immer darauf an, aus welcher Epoche wir zurückblicken, um die Dinge einzuordnen. Insofern ist Wahrheit immer etwas Relatives. In dem Buch habe ich versucht, Fakt und Fiktion miteinander zu verbinden – ich nenne das inzwischen „Faction“. Wenn ich über mich und meine Erlebnisse schreibe, dann ist das authentisch – und nicht ausschließlich faktisch, weil dieses Erleben naturgemäß subjektiv ist. Diese künstlerische Freiheit, mit der Wahrheit spielerisch umzugehen, ist am Ende eher bereichernd, weniger verfälschend.
Ist die große Frage, woher Sie kommen, nun bündig beantwortet?
Kerkeling
Nein. Die Vergangenheit ist aber auch nicht mehr dieser ganz dunkle Schacht, in den ich blicke, sondern ich erkenne Silhouetten im Tunnel. Es ist ein bisschen Licht da, ich kann Formen und Strukturen sehen, die mir beim Blick nach vorn tatsächlich helfen, weil jetzt von hinten mehr Licht kommt. Ja, ich habe mehr Licht im Rücken.
Woher Sie kommen, wissen Sie jetzt. Wohin geht die Reise?
Kerkeling
Rückblick und Ausblick ähneln sich jetzt mehr. Es ist entscheidend, auf welche Weise man zurückblickt. Ohne jedes Wissen über unsere Großmütter blicken wir anders in die Vergangenheit als mit einem auch nur vagen Bewusstsein über deren Biografien. Im wissenden Blick zurück nehmen wir das Dunkel gewissermaßen mit – der Blick nach vorn ist zuversichtlicher, bewusster, klarer.
Über Ihre Urgroßmutter Agnes haben Sie herausgefunden, dass sie beim ersten zufälligen Zusammentreffen mit dem englischen König Eduard VII. den Regenten „Rindviech“ schimpfte. Eine wahre Geschichte?
Kerkeling
Diese Story ist einerseits völlig meiner Fantasie entsprungen: Wie haben die sich wohl getroffen? Die Szene basiert andererseits auf einer realen Begebenheit, die um 1903 tatsächlich so stattfand. Der „Corriere della Sera“ berichtete damals groß darüber, wie seine Majestät einer 19-jährigen Radfahrerin in Marienbad das Leben gerettet hatte. Da dachte ich mir: „Okay, das ist Fakt, das hätte also meine Uroma sein können.“
Agnes heiratet später Ihren Urgroßvater Josef, einen Rittmeister des kaiserlichen Husarenregiments, einer der Kutscher Kaiser Franz Josephs von Österreich.
Kerkeling
Josef durfte ich noch kennenlernen. Der Rittmeister, den ich sehr gern mochte, erfand für mich den Spitznamen „Peterhansl“. Josef war ein entfernter Cousin meiner Urgroßmutter. Insofern vermute ich, es handelte sich um eine arrangierte Hochzeit.
Verwandtschaftsverhältnisse sind bisweilen schwer überschaubar. Wie bewahren Sie den Überblick?
Kerkeling
Wenn Leute im Fernsehen anfangen, sich in ihren Worten zu verheddern, dann denke ich: Strukturiere dich, sammle dich! Versuche es, auf den Punkt zu bringen! Das, worunter ich als Zuschauer vor dem Fernseher leide, kenne ich auch im eigenen Leben: Ich habe es gern strukturiert und geordnet. Deshalb weiß ich exakt, wer wessen Schwippschwager ist.
Bewundernswert.
Kerkeling
Es ist auch ein bisschen manisch, aber ich komme ganz gut damit klar.
Mit Agnes’ Tochter, Ihrer Großmutter Bertha, urlaubten Sie als Kind regelmäßig im salzburgischen Golling. Woran erinnern Sie sich?
Kerkeling
Meine Großmutter fühlte sich ihr Leben lang als Österreicherin. Sie sagte stets, dass sie ihrer Staatsbürgerschaft beraubt worden sei. Sie fühlte sich nie als Deutsche, irgendwann musste sie aber Deutsche werden, was sie bis an das Ende ihrer Tage hasste. Dementsprechend verbrachte sie, solange sie es konnte, ihren Urlaub in Österreich. Das Land ist auch für mich keine fremde Welt, sondern immer auch ein Stück Heimat gewesen.
Ihr Großvater väterlicherseits, Hermann, fristete im Konzentrationslager Buchenwald drei Jahre lang bis zur Befreiung als politischer Häftling in der Kleiderkammer sein Dasein. Was haben Sie über seine Zeit im KZ herausgefunden?
Kerkeling
Es gab viele Details, über die mein Großvater selten und ungern sprach. Ich erlebte in meiner Kindheit, dass er zu Prozessen musste, um als Zeuge auszusagen, und es jedes Mal eine fürchterliche Tortur für ihn war, bis meine Großmutter irgendwann sagte: Du bist jetzt jenseits der 80, du gehst jetzt zu keiner Verhandlung mehr. Es dauerte Wochen, bis er sich von den Gerichtssitzungen erholte, weil er mit den schrecklichen Taten wieder konfrontiert worden war, Gegenüberstellung erleben, ehemalige Täter treffen musste. Er hatte auch zu berichten, wie er selbst mehrfach gefoltert worden war.
Wie ist er mit dem erlebten Horror umgegangen?
Kerkeling
All das setzte ihm sehr zu, er erduldete es aber mit großer Tapferkeit, ließ alles über sich ergehen. Am Ende war er ein gebrochener Mann. Mein Großvater war im Vergleich zu anderen Großeltern, die ich als Kind von Freunden oder Freundinnen kannte, besonders schweigsam, undurchschaubar, für mich mitunter sogar unheimlich, weil er so verschwiegen war. Je älter ich wurde, desto mehr verstand ich ihn, desto angenehmer empfand ich sein Schweigen. „Angenehm“ ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein unpassendes Wort; er war in diesem Schweigen aber ganz bei sich. Das war die einzige Antwort, die er auf die Schrecken hatte. Er entschied sich, dass es für das Erlebte keine Worte gibt. Das ist absolut nachvollziehbar.
Sie zitieren in „Gebt mir etwas Zeit“ aus der calvinistischen Glaubenslehre: „Wer auf Erden viel lacht, wird im Jenseits viel weinen.“ Werden Sie im Jenseits viele Tränen vergießen müssen?
Kerkeling
Was passierte einst, wenn man diesen Satz hörte? Ich soll nicht lachen, sonst lande ich womöglich in der Hölle. Der Spruch kann aber auch ein Bewusstsein für Humor schaffen. Worüber lache ich? Ist das wirklich Humor? Deswegen finde ich den Satz in Ordnung, so sehr man ihn eigentlich ablehnen müsste: Er hält einen zu mehr Aufmerksamkeit an, zu mehr Kontemplation. Es kann nicht schaden, darüber nachzudenken: Wie lache ich? Wann lache ich? Wo lache ich? Auch wenn man manchmal beim Lachen einfach loslassen muss. Sonst hat man ja nichts davon.
Ein großer österreichischer Philosoph, Hans Moser, hat einmal gesungen: Wenn der Herrgott nicht will, nutzt es gar nichts. Einverstanden?
Kerkeling
Ja, es nutzt gar nichts, wenn der Herrgott nicht will. Dem kann ich nur zustimmen. Da kann man sich auf den Kopf stellen. Hilft nix.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.