Festival

Ums Ganze: Was das neue St. Pöltner Kulturfestival Tangente will

Öko-Kunstoffensive oder Zeugnis kultureller Maßlosigkeit? Bei der Tangente, dem neuen, in St. Pölten angesiedelten Festival für Gegenwartskultur trifft man letzte Vorbereitungen für die Eröffnung am kommenden Dienstag.

Drucken

Schriftgröße

Der Rahmen, den sich dieses Festival gegeben hat, ist nicht unbedingt bescheiden. Mit einem – die Wiener Festwochen locker ausstechenden – Budget von knapp 18 Millionen Euro, getragen zu gleichen Teilen vom Land Niederösterreich und der Stadt St. Pölten, bestreitet es seinen Betrieb. Das Programm erstreckt sich, mit allerdings langer Sommerpause, über mehr als fünf Monate. In zwei Tranchen soll das Menü der Tangente serviert werden – die erste wird bis zum 7. Juli reichen, zwischen 12. September und 5. Oktober wird man noch einmal gute drei Wochen lang ein dichtes Kulturprogramm bieten. Bis in den Herbst hinein wird St. Pölten also flächendeckend mit bildender Kunst, Theater, Tanz, Performance, Musik und Literatur versehen.

Tangente-Chefkurator Tarun Kade beschreibt das Themenfeld seines Festivals so: „Es geht um Weltpolitik und lokale Mikrokosmen, um Grassroots-Initiativen und Großkonzerne, es geht um Musik, Theater, Diskurs und Communitys, um Geschichte, Gegenwart und Zukunft, um St. Pölten, Österreich und die Welt. Es geht ums Ganze.“ Und darum, „Spielräume des Handelns und Gestaltens wiedergewinnen zu können“. Man setzt auf Ökologie, Partizipation, Inklusion und Klimakonferenz, auf Straßenfeste und Kunstparcours.

Mit einer Operninszenierung des Festwochenchefs Milo Rau startet die Tangente am 30. April: Hèctor Parras Werk „Justice“, intoniert vom Tonkünstlerorchester Niederösterreich, geht von einem verhängnisvollen Industrie-Schadstoffunfall aus, der 2019 im Kongo über 20 Todesopfer gefordert und einen Fluss kontaminiert hat.

Die Genese der Tangente basiert auf einem kulturellen Rückschlag: Als 2019 bekannt wurde, dass der Favorit St. Pölten nicht Europäische Kulturhauptstadt 2024 sein würde, beschloss Niederösterreichs Politik, eine Art Trotzfestival ins Leben zu rufen. Christoph Gurk, der 2021 als künstlerischer Leiter seine Arbeit aufgenommen hatte, schmiss im Frühsommer 2023 vorzeitig hin – wegen „unauflösbarer Differenzen“ mit der lokalen Kulturbürokratie.

Nun also startet das mit erheblichen Friktionen konzipierte Festival – mit einem teuren Programm, an dem Popstars wie Fever Ray teilnehmen und etwa die Band The Notwist ein Minikonzertreihe kuratiert hat. Stefan Kaegi, Mitglied des Theaterkollektivs Rimini Protokoll, wird mit Caroline Barneaud Outdoor-Theater und -Musik veranstalten, und mit Olivier Messiaens Klavierzyklus „Katalog der Vögel“ (1956–58) wird man den Verlust europäischer Vogelpopulationen betrauern. Dazu wird Birgit Minichmayr Texte der Autorin Judith Schalansky, der Philosophin Vinciane Despret und des Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila lesen, der für das Rau-Spektakel „Justice“ übrigens das Libretto schrieb.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.