Jonathan Safran Foer

Unterlebensgroß

US-Starautor Jonathan Safran Foer gibt in seinem neuen Roman neben einem Liebespaar auch Israel dem Untergang preis. Wolfgang Paterno über ein Buch, das viel wagt und noch mehr gewinnt.

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Ein Paar feiert Chuppa, jüdische Hochzeit, und zerbricht eine Glühbirne. Was man für einen ritualisierten Appell halten könnte (Lass uns glücklich sein, bis die Scherben sich wieder zusammengesetzt haben!), betrachtet der Bräutigam als Scheitelpunkt des Scheiterns: "So sind wir. Wir sind brüchige Individuen, die in einer brüchigen Welt eine brüchige Verbindung eingehen." Jacob, der mäßig erfolgreiche Schriftsteller und TV-Drehbuchschreiber, und die Architektin Julia, von der kein Entwurf je umgesetzt wurde, bilden in Jonathan Safran Foers neuem Roman "Hier bin ich" das Mittelstandsehepaar Bloch, das mit seinen drei heranwachsenden Söhnen in Washington, D. C., lebt.

Die Geschichte, die Foer, 39, in seinem dritten Roman (seinem ersten seit elf Jahren) erzählt, ist eine Liebesstory, wie sie schon unzählige Male Gestalt annahm. Frau trifft Mann trifft Amor. Es folgen Nähe, Intimität, Leidenschaft, Ergriffenheit, die Geburt der Kinder: Sam, Max, Benjy. Bald mündet das Zusammenleben jedoch in die Eintönigkeit des Alltagslebens, in die schale Abfolge häuslicher Rituale: "Ihr Familienleben war die Summe von Korrekturen und kleinen Schubsen. Unzähligen winzigen Verbesserungen. Neues tat sich nur in Notaufnahmen oder Anwaltskanzleien." Der Traum von der familiären Idylle scheitert. "Meine Kinder starren den ganzen Tag auf Bildschirme. Mein Hund ist inkontinent", jammert Jacob. Er sei, mit einem Wort, "unterlebensgroß".

"Wackelpudding-Erektion"

Es folgt die Zeit des langsamen Liebesverfalls. Streit, viele Scherben. Das Glück? Eine ferne Ahnung, turmhoch die unerfüllten Sehnsüchte. Julia und Jacob lassen sich schließlich nach 16 Jahren Ehe scheiden, veranlasst durch Jacobs SMS-Verkehr mit einer Kollegin; zufällig entdeckt Julia die pornografische Konversation auf dem heimlich angeschafften Zweithandy ihres Mannes. Dass Jacob sie realiter betrogen haben könnte, bezweifelt Julia. Um seine "Wackelpudding-Erektion" weiß sie nur allzu gut Bescheid. "Gehen wir zu Bett. Diese vier Worte unterscheiden eine Ehe von jeder anderen Beziehung. Wir finden keinen gemeinsamen Nenner, aber lass uns zu Bett gehen. Nicht weil wir es tun möchten, sondern weil wir es tun müssen. Wir hassen einander gerade, aber lass uns zu Bett gehen."

Das ist Foers spezieller Blick auf das Desaster der Liebe, der Blick eines traurigen Komödianten, dem nach seinem Sachbuchbesteller "Tiere essen" (2009) mit "Hier bin ich" ein so geistreicher wie humorvoller Roman geglückt ist. "Hier bin ich" ist aber nicht nur ein Scheidungsroman, die Chronik des Misslingens einer Spießbürgerehe, in der die ungelesene Ausgabe von Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" im Buchregal intellektuell breit gefächerte Neugier signalisieren soll. "Hier bin ich" zielt auf die Erkundung und Evaluation der Mikrodramen des modernen Daseins, dessen Reste von Innen- und Seelenleben unter einem bleischweren Alltag begraben liegen. "Ich bin einer jener Menschen, die erst stinken müssen, damit die Nachbarn ihren Tod bemerken", sagt Jacob, dessen Jeremiaden über sein ungelebtes Leben ganze Seiten füllen.

Foer verharmlost die Probleme der Blochs nicht durch Anekdotisches. Das Auseinanderbrechen der Ehe zeichnet der Autor als ein Phänomen fast schon geologischer Natur, als eine sich schier unendlich langsam und quälend schmerzhaft hinziehende Tektonik der Gefühle und Emotionen . "Es hatte weder Tätlichkeiten noch Grausamkeiten gegeben, nicht einmal Gleichgültigkeit", schreibt Foer. "Der Ursprung des Abstands wäre Nähe: die Unfähigkeit, ein Schamgefühl zu überwinden, ausgelöst von tief verborgenen Bedürfnissen, die auf Erden keinen Platz mehr hatten."

Dystopischer Israel-Entwurf

Mit Witz und überschäumender Erzähllust kehrt der Autor in kargen, minimalistischen Szenen und in subtilen Schritten das Unterste zuoberst. Kein Stein bleibt auf dem anderen - buchstäblich: Während die Ehe der Blochs an der amerikanischen Ostküste zum Scheitern verurteilt ist, wird einige Tausend Kilometer Luftlinie entfernt der Nahe Osten von einem Erdbeben historischen Ausmaßes erschüttert. Die Jerusalemer Grabeskirche wird ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie die Klagemauer. Syrien, Ägypten, der Libanon erklären Israel den Krieg und setzen ihre Raketen und Armeen in Gang, das neu gegründete Bündnis Transarabien zieht Flugzeuge und Truppen zusammen. Der erweiterte Horizont des Romans - aber nicht der eigentliche Gegenstand seiner Geschichte - ist der dystopische Entwurf eines Staates Israel, dessen Existenz seit dessen Gründung infrage gestellt und bedroht ist.

"Hier bin ich" umkreist die Schwierigkeiten und Fallstricke jüdischer Identität. Was ist jüdisch? Wie lebt man als Jude? Wie geht man mit Erwartungen, Vorschriften, Geboten um? Wie mit dem alten "Hamlet"-Dilemma: Selbsthass oder Schuldgefühle? Handeln oder nachdenken? Leben oder Tod? Lieben oder hassen?"Seine Generation kennt nur zwei Arten von Juden: jene, die ermordet wurden, und jene, die überlebt haben", schreibt Foer über Jacobs Zweifel. "Wir haben den Opfern Treue geschworen und das Versprechen gehalten, sie nie zu vergessen. Doch wir haben den Überlebenden den Rücken zugekehrt, wir haben sie vergessen. Unsere Liebe galt nur den Toten."

Im Schatten der großen Erdbebenkatastrophe verkommt das Ehedrama der Blochs zu einem Jahrmarkt der Absurditäten. Mit der Floskel, wonach das Private politisch und das Politische privat sei, macht Foer ernst: "Nichts ist nicht politisch." Dennoch bildet die schleichende Agonie, in der Julia und Jacob tief verfangen sind - so verkündet Foer mit kühler Grausamkeit - das Gravitationszentrum allen Geschehens: Mag die Welt auch untergehen, die Blochs machen weiter wie bisher.

Modernes "Theatrum mundi"

Foer bietet eine Vielzahl an konventionellen Erzähltricks auf, die er gewieft ineinander verschachtelt - von glänzenden Dialogpassagen über jähe Perspektivwechsel, kantige Texteinschübe und Zooms bis in die Denk- und Trauma-Zentren in den Köpfen seiner Figuren. Während weniger Wochen begleitet der Roman die Blochs, mit wiederkehrenden Zwischenstopps in die Vergangenheit, mit all den kleinen und mittelgroßen Familiendramen: Sams Unfall mit der linken Hand, die er in einer schweren Eisentür quetscht; Julia findet Jacobs Mobiltelefon mit dem Erotik-Dialog; Jacobs Großvater wählt den Freitod. "Zu Beginn der Zerstörung Israels überlegte Isaac Bloch, ob er sich umbringen oder ins jüdische Seniorenheim gehen sollte." So hebt der Roman an. Später steht die Bar Mizwa, Sams Fest der Mannwerdung, ins Haus, Verwandte aus Israel kommen zu Besuch: der gesammelte Wahnsinn der Normalität, in dem irgendwie alles mit allem zusammenhängt und der "Hier bin ich" zu einem modernen Theatrum mundi werden lässt, zu einer Welt in einem Buch.

Auch Julia erinnert sich übrigens an den Tag ihrer Hochzeit mit Jacob. "Ich habe dich siebenmal umkreist, und ich habe dich mit Liebe umhegt, jahrelang, und die Wand ist eingestürzt", hält sie ihm entgegen. "Ich habe sie einstürzen lassen. Aber weißt du, was ich dahinter gefunden habe? Dein größtes Geheimnis ist, dass du bis ins Innerste eine Mauer bist. Da ist nichts." Bei der Geburt eines seiner Kinder bekommt Jacob im Spital später zehn Gebote zur Fürsorge für Neugeborene mit auf den Weg. Das letzte und wichtigste lautet: "Du sollst nicht vergessen: Es wird nicht von Dauer sein."

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Kiepenheuer & Witsch, 683 S., EUR 26,80

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.