Buchtipps für den Sommer / Coversammlung
Urlaubslektüre 2024

27 Buchtipps für den Urlaub

Der Sommer kann groß werden: Erzählungen, Lyrikbände, Romane und Sachbücher für die kommenden Wochen auf dem Balkon, am Berg oder Strand. Die Empfehlungen der profil-Redaktion.

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1. Bitternis

Joanna Bator, Bitternis, Roman, Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Von Attnang-Puchheim bis Hawaii

Der Roman „Bitternis“ der polnischen Autorin Joanna Bator, 56, unterläuft stellvertretend für alle große Literatur das Missverständnis, es gebe so etwas wie saisonale Prosa: jene für den Ohrensessel, jene für den Sandstrand. Gute Literatur lässt sich überall lesen, weil sie es schafft, uns immer wieder Momente lang von der Umgebung loszueisen, ob am Strand oder im Schnee. „Bitternis“, die Geschichte von vier Frauen in einem langen Jahrhundert, ist ein Epos über Leben und Tod. Gewaltoper und Gefühlshochschaubahn zugleich, eine Ode ans Erzählen und Überleben unter widrigen Umständen. Ideale Lektüre, gleichermaßen für den Balkon in Attnang-Puchheim wie für hawaiianische Gestade.

 

Joanna Bator: Bitternis.
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp.
827 S., EUR 35,00

2. Der Kaninchenstall

Tess Gunty: Der Kaninchenstall. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz.

Hirn kratzen

Skurrile Zeiten verlangen skurrile Bücher. Am besten solche, die einem unter die Schädeldecke fahren – und das Gehirn just dort kratzen, wo man seit Jahren nicht hingekommen ist. Bücher, die derart übertreiben, dass man die Gegenwart guten Gewissens in Ruhe vor sich hin wabern lassen kann. Tess Guntys Debüt „Der Kaninchenstall“ ist so eines. Der Roman braucht einen ökonomisch abgehängten Apartmentkomplex im amerikanischen Mittleren Westen sowie ein paar tragikomische Charaktere. Schon entsteht ein gewitztes Gesellschaftspanorama zwischen Einsamkeit und Freiheit, Spätkapitalismus-Analyse und Absurdität.

 

Tess Gunty: Der Kaninchenstall. 

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Kiepenheuer & Witsch. 

416 S., EUR 25,70

3. Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.

Große Zukunft

Zwölf Erzählungen über Träume – lebendig, tröstlich, einmalig. In Saša Stanišić neuem Buch menschelt es. Viel mehr braucht gute Lektüre nicht. 

 

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.

Luchterhand.

256 S., EUR 24,70

4. Auf allen vieren

Miranda July: Auf allen vieren. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs.

Poesie & Porno

Einiges läuft hier aus der Spur, ein Leben auf Um- und Irrwegen, stetig vom Einbiegen in Einbahnstraßen bedroht. Die Icherzählerin in Miranda Julys Roman „Auf allen vieren“ vereint vieles in Personalunion: Künstlerin, Ehefrau, Geliebte, Connaisseuse von Poesie und Porno. Die manchmal fast schon vernehmbare Tonspur dieses Romans ist das Schrillen von Alarmglocken jeglicher Art, ein Buch über eine vom Weltgeist des 21. Jahrhunderts durcheinandergeschüttelte Biografie. An ihrem 45. Geburtstag schenkt sich die Protagonistin eine Tour allein mit dem Auto von der kalifornischen Westküste nach New York. Dort wird sie aber nie ankommen. Ein tristes Motel und die sehr lustige und spontane Fixierung auf den Mitarbeiter einer „Hertz“-Autovermietungsfiliale spielen weitere Hauptrollen. Schöner Wohnen und Reisen.

 

Miranda July: Auf allen vieren. 

Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Kiepenheuer & Witsch.
407 S., EUR 25,70

5. Natürlich kann man hier nicht leben

Özge Inan: Natürlich kann man hier nicht leben.

Revolutionsträume

Mit Weitsicht und Tiefgang erzählt Özge İnan die Geschichte einer Familie, die nicht aufgibt. Es geht um Freundschaft und Verrat, Liebe und Wut. Schriftstellerin Shida Bazyar fasst es am Buchrücken schön zusammen: „Özge İnan erzählt von Menschen, die tausend Gründe hätten, keinen Widerstand zu leisten – und die dennoch nicht zu brechen sind. Ein so lebendig erzählter, beeindruckender Roman.“ 

 

Özge İnan: Natürlich kann man hier nicht leben.

Piper.

240 S., EUR 24,00 

6. Tag der Befreiung

George Saunders: Tag der Befreiung. Deutsch von Frank Heibert.

Sonnenschattenseite

George Saunders, 65, ist ein Könner seines Fachs, der eine Spur zu reflexhaft als Kurzgeschichtenkönig apostrophiert wird. Man könnte den US-Erzähler als Meistermaler des Dunkels bezeichnen, was auch ganz gut hinkommt. Saunders Geschichten, versammelt im Band „Tag der Befreiung“, spielen sich in Schatten- und Nebelgefilden ab, tatsächlichen und gefühlten. Jedes neue Saunders-Buch ein Fest, jeder Satz ein Bild: „Sie war klein und schmächtig, und ihre Augen waren dunkle Perlen auf beiden Seiten einer schnabelartigen Nase.“ Die neun Erzählungen von „Tag der Befreiung“ sind viel mehr als akkurat abgezirkelte Storys. Sie eröffnen Nachdenkräume mit verstörend vielen Facetten. Saunders hat wahrlich keine tröstenden Botschaften parat. Die Wahrheit muss manchmal schmerzen. Der Sandstrand der Tatsachen ist gelegentlich hart. 

 

George Saunders: Tag der Befreiung. 

Aus dem Englischen von Frank Heibert. Luchterhand.
320 S., EUR 25,70

7. Content

Elias Hirschl: Content.

Menschheit verpufft

Eine Katastrophe bahnt sich an, keineswegs so schleichend, dass man es nicht merken könnte, sondern derart dramatisch, dass es niemand schafft, die Sache wirklich ernst zu nehmen. Die Welt geht unter, die Essenslieferanten streiken, die Menschheit verpufft, aber keiner kann sich darauf konzentrieren. Erdbeben, Überflutungen, Brände? Ja, aber: Influencer, Memes und Is-it-Cake-Videos. Elias Hirschls Paralleluniversum surft haarscharf am zeitgenössischen KI-Web entlang und reißt Stücke aus dem Netz: In einer (wohl westdeutschen) Gegend, in der einst Kohle abgebaut wurde für ein fossiles Zeitalter, werden in dynamisch prekärem Agentur-Ambiente Listicles erfunden und Insta-Storys eingesprochen, deren höherer Sinn vermutlich Marketingzwecke erfüllt, sich am Weg dahin aber verflüssigt. Kein Wunder, dass Kollegin Karin den Verstand verliert und Boyfriend Jonas aus dem Gründen nicht mehr herauskommt, während die Protagonistin stoisch Clickbait produziert, von digitalen Doppelgängerinnen und heiß laufenden KIs mehr fasziniert als heimgesucht. Schwierige Zeiten, löchrige Welt – und ein Roman, der so lustig ist, wie man sich das Ende der Welt nur vorstellen kann.

 

Elias Hirschl: Content. 

Zsolnay. 

226 S., 24,50 EUR

8. Das Leben ist eins der Härtesten

Giulia Becker: Das Leben ist eins der Härtesten.

Tropical Islands, aber in Deutschland

So richtig lustig zu sein ist harte Arbeit. Bei Giulia Becker hat man trotzdem das Gefühl, es gibt nichts einfacheres. In ihrem Roman „Das Leben ist eins der Härtesten“ werden Menschen zu Helden, die im Gewusel des Alltags normalerweise untergehen – ein Ausflug in den Wasservergnügungspark „Tropical Islands“ inklusive.

 

Giulia Becker: Das Leben ist eins der Härtesten.

Rowohlt.

224 S., EUR 12,00 

9. The Heaven & Earth Grocery Store

James McBride: The Heaven & Earth Grocery Store.

Herz schmilzt

Die amerikanische Erzählung von der Nation als Schmelztiegel hat bekanntlich einen Geburtsfehler: Unter diesem Kessel loderte lange das Feuer von Sklaverei und Rassentrennung. James McBride, 66, lässt sich das Geschichtenerzählen davon zum Glück nicht verleiden. Reich ausfabuliert und herzhaft um jede sich bietende Abzweigung schlenkernd, erzählt er die Story von Moshe und Chona Ludlow, jüdischen Emigranten, die in Pottstown, Pennsylvania, Ende der 1920er-Jahre in der von schwarzen Arbeitern bewohnten Siedlung Chicken Hill die titelgebende Greißlerei betreiben. Bald widerfährt ihrem Ziehkind ein Unrecht, das gesühnt werden muss: Der kleine Dodo wird Opfer einer rassistischen Intrige, die eine Kaskade aus Selbsthilfe, Nachbarschaftsgeist und Übersinnlichem anwirft, meisterhaft arrangiert und leichtfüßig geschildert: Schwarze Geheimgesellschaften und weiße Klans, institutionelle Gewalt und persönliche Rache motivieren McBrides Reigen aus Anekdoten, Apropos und Abschweifungen und fügen sich zu einer Geschichte, die eine Gemeinschaft schafft. Das Herz geht einem auf bei diesem Buch; es muss ja nicht gleich schmelzen.

 

James McBride: The Heaven & Earth Grocery Store. 

(im Oktober in deutscher Übersetzung bei btb)

Riverhead Books. 386 S., EUR 09,99 

10. Ein schönes Ausländerkind

Toxische Pommes: Ein schönes Ausländerkind.

Spannungsverhältnisse

„Was hat uns das neue Leben gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich?“ Der Debütroman von Toxische Pommes, bekannt von TikTok, erzählt von der Beziehung zwischen einer Tochter, deren Hauptaufgabe es ist, die perfekte Migrantin zu werden, und ihrem Vater, der sich beim Versuch, ihr das zu ermöglichen, selbst verliert. 
 

Toxische Pommes: Ein schönes Ausländerkind.

Zsolnay.

208 S., EUR 23,70 

11. Und alle so still

Mareike Fallwickl: Und alle so still.

Alles anders

Frauen beschließen nicht mehr das zu tun, was sie eigentlich immer getan haben. In Mareike Fallwickl Und alle so still“ steht alles still – und damit auch alles infrage. Ein großer feministischer Gesellschaftsroman über Aufsässigkeit und Solidarität.

 

Mareike Fallwickl: Und alle so still.

Rowohlt.

368 S., EUR 24,50

12. Der Untergang der Wager

David Grann: Der Untergang der Wager. Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei.

Sonne scheint nie

Ein Aufbruch ins Ungewisse, Herbst 1740: Die HMS „Wager“ legt vom Hafen Portsmouth ab, um eine spanische Galeone samt Silberschatz zu kapern. „Ungewiss“ trifft es allerdings nur halb. Das Unglück fährt von Beginn an mit: Von den 250 Seeleuten an Bord sind Dutzende schon siech und invalide, als sie in London zwangsrekrutiert werden, der Rest erkrankt im Lauf der Reise, mehr als 100 Männer sterben an Typhus, Skorbut und in Kälte und Sturm beim fatalen Versuch, Kap Hoorn zu umsegeln. Nach monatelanger Odyssee schließlich: Schiffbruch auf einer Felsinsel im Südpazifik. Es folgen noch größere, teils unvorstellbare Schwierigkeiten, Hunger bis zum Kannibalismus, Krankheit bis zum Tod – Verzweiflung bis zur Heimkehr (der wenigen, Jahre später). Selten wurden die Schrecken des Eises und der Finsternis, die das imperiale Zeitalter und seine Seefahrten mit sich brachten, so eindringlich geschildert wie in David Granns Report, der auf zeitgenössischen Berichten und Logbüchern basiert. Wie bereits in seinem Buch „Killers of the Flower Moon“ (von Meister Martin Scorsese unlängst verfilmt) hebt Grann aus dem Archiv einen Thriller, der philosophische Höhen erklimmt: Was ist wahr, was nur wahrgenommen, und wem soll man glauben, wenn nur die Sonne Zeugin ist (die obendrein eh nie scheint)? 

 

David Grann: Der Untergang der Wager. 

Verlag C. Bertelsmann. 

432 S., EUR 25,70

13. Vatermal

Necati Öziri: Vatermal.

Wut & Melancholie

Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie der letzte Sommer meiner Jugend war, bevor fast alle meine Freunde verschwunden sind. Du sollst wissen, wie es war, als deine alten Freunde mir auf die Schulter klopften und sagten, ich würde irgendwann werden wie du: Held einer gescheiterten Revolution. Ich werde diese Geschichten aufschreiben.“ Necati Öziris „Vatermal“ ist so ehrlich und brillant, dass es einem das Herz zerreißt. 

 

Necati Öziri: Vatermal.

Claassen.
304 S., EUR 25,00 

14. Dann schlaf auch du

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

Alles perfekt

Das Baby ist tot. Sekunden haben genügt. Man hat es in eine graue Hülle gelegt und den Reißverschluss über dem verrenkten Körper zugezogen, der inmitten der Spielzeuge trieb. Die Kleine dagegen war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde.“ Leïla Slimani schuf mit „Dann schlaf auch du“ ein brillantes Sittenbild der französischen Gesellschaft – überwältigend, unterhaltsam, erschreckend. 

 

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du.

Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand.
224 S., EUR 20,00 

15. James

Percival Everett: James. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.

Vom Unterwegssein

„James“, Percival Everetts Roman, ist halb Anklage, halb Neuschreibung eines Klassikers: In „Huckleberry Finns Abenteuer“ (1885), verfasst von Mark Twain (1835–1910), wird vom Unterwegssein des jungen Huck berichtet, der in Begleitung des Sklaven Jim durch die schweren Wasser des Mississippi kreuzt. Everett kehrt in „James“ die Perspektive um. Während die weißen Herrenmenschen entlang der Ufer des Mississippi wüten, erweist es sich, dass der Sklave James lesen und schreiben kann – und hier die Geschichte seiner Flucht an Hucks Seite erzählt. Das Kaff Hannibal, wo Mark Twain als Jugendlicher lebte, ist der Ausgangsort von Hucks und James’ Flucht, die sie bald in ein Niemandsland führt, in dem keine Gesetze gelten. Genauer gesagt: in dem der Kodex des Rassenwahns vorherrscht. Wer einige Seiten dieser Irr- und Verfolgungsfahrt gelesen hat, wird um die Sommerliteratur, die sich saisonal auf tatsächlichen und virtuellen Büchertischen stapelt, in ihrer verwechselbaren Mischung aus Plumpheit und durchschaubarer Raffinesse, für immer einen weiten Bogen machen.

 

Percival Everett: James. 

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser. 

329 S., EUR 26,80

16. Mein Gedicht ist mein Gesicht

Srečko Kosovel: Mein Gedicht ist mein Gesicht. Deutsch von Ludwig Hartinger.

Seele baumeln lassen

Endlich die Schwarzseele baumeln lassen! Der slowenische Dichter Srečko Kosovel starb 1926 mit nur 22 Jahren an Meningitis. „100 Jahre nach mir wird keine Rede von mir sein“, notierte er im Tagebuch; an anderer Stelle vermerkte er: „Für immer bleib ich.“ Ein grandios Zerrissener, der Gedichte, Prosatexte, Essays, Briefe hinterließ – und zeit seines Lebens kein Buch veröffentlichte. „Mein Gedicht ist mein Gesicht“ ist eine Lyriksammlung glasklarer Landschafts- und Eigenschau. Immer wieder durchstreift Kosovel die slowenischen Karstlandschaften nahe der italienischen Grenze, bis 1917 Schauplatz von zwölf verlustreichen Schlachten. „Der Dichter ist Botaniker“, protokollierte er: „Sein Tagebuch ist voller Schädel.“ Weiter entfernt von Föhrenrauschen und Nadelduft kann keine Dichtung sein. 

 

Srečko Kosovel: Mein Gedicht ist mein Gesicht. 

 Aus dem Slowenischen von Ludwig Hartinger. Otto Müller.
180 S., EUR 25,00

17. Die Einladung

Emma Cline: Die Einladung

Zu Gast

Emma Cline vereint in ihrem Roman „Die Einladung“ die Krisen der amerikanischen Gegenwart. Eine abgründige Geschichte folgt dem wohnungslosen Escort Alex und ihren Verirrungen das Leben der reichen New Yorker:innen. Ehrlich, messerscharf, klug. 

 

Emma Cline: Die Einladung.
Aus dem Englischen von Monika Baark. Hanser Verlag.
320 S., EUR 26,00 

18. Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht.

In den Himmel hinauf

Wo fletscht der spitzeste Zahn der Karawanken hinauf in den Himmel? Das genaue Orts- und Reiseziel dazu ist in Julia Josts Roman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ zu finden. Jost, 42, erzählt von einer Provinzkindheit, die himmelweit weg ist von vielen anderen Coming-of-Age-Geschichten. Umweht von rituellen Gasthausbesäufnissen und der provinziellen Alltagsschwere, mustert die juvenile Icherzählerin das Wanken und Schwanken einer ihr bis in die Haarwurzeln vertrauten Welt, was im selben Moment abstoßend und faszinierend ist. Jost berichtet mit einem in der Literatur selten abgesteckten Grundgefühl für das austriakische Hinterland.  

 

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. 

Suhrkamp. 

229 S., EUR 24,70

19. Der Köder

Rosemary Tonks: Der Köder. Deutsch von Eva Bonné.

Völlig unkorrekt

Die Lebensgeschichte der Britin Rosemary Tonks (1932–2014) klingt nach Romanstoff: Heirat mit 20, Umzug nach Karatschi, Erkrankung an Polio und Rückkehr nach England; einige Zeit BBC-Journalistin und Autorin. Mitte der 1970er-Jahre der Bruch: Tonks lässt ihre Freunde und die Familie hinter sich. Jahrzehntelang versuchte sie, alle vorhandenen Exemplare ihrer wenigen Bücher aus den Bibliotheken des Königreichs auszuleihen und zu vernichten. Mission gescheitert: Tonks’ rasanter Swinging-Sixties-Roman „Der Köder“ rettete sich über die Zeit, uns allen zur Freude. „Der Köder“ ist Selbst-, Milieu- und Epochenporträt sowie Amouren-Aufzählung. Ein 1960er-Jahre-Prosa-Bündel, als man für Political Correctness noch kein Wort kannte. Tonks’ Alter Ego Min steckt im Dilemma, sich für einen ihrer Liebhaber entscheiden zu müssen. „Ein richtiger Urlaub! Kann es wahr sein?“, staunt sie gegen Ende von „Der Köder“: „Wir machen uns schuldig.“

 

Rosemary Tonks: Der Köder.
Aus dem Englischen von Eva Bonné. März. 

234 S., EUR 25,70

20. Nostromo

Joseph Conrad: Nostromo. Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs.

Menschenherzfinsternis

Das Lexikon fasst diesen in viele Richtungen wuchernden Roman, der vor 100 Jahren erstmals erschienen ist, so zusammen: „Ursprünglich als […] Novelle geplant, wuchs sich der […] Roman während der zweijährigen Entstehungszeit zu einem komplexen Panoramabild der fiktiven Republik Costaguana in Südamerika aus.“ Damit ist über „Nostromo“ von Joseph Conrad (1857–1924) fast alles – und gleichzeitig sehr wenig – gesagt. Conrad lesen heißt: die dröge Abenteuermaschinerie anderer Bücher hinter sich zu lassen, einzutauchen in einen Dekaden umfassenden Beschreibungsfuror samt der Feinmalerei eines Autors, der seinen Seemann Nostromo den politischen und sozialen Verwicklungen und Verirrungen um eine Silbermine aussetzt. Die Finsternis der Menschenherzen unter der glühenden Sonne Costaguanas.

 

Joseph Conrad: Nostromo.

Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs. Manesse. 

553 S., EUR 39,10

21. Joseph Süßkind Oppenheimer

Raquel Erdtmann: Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord.

Stein im Schuh

Raquel Erdtmann studierte Schauspiel und arbeitete als Sprecherin und Autorin. Gewissermaßen ideale Voraussetzungen, um als Gerichtsreporterin für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und das Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ über die kleinen und großen Dramen auf der Anklagebank zu berichten. In „Joseph Süßkind Oppenheimer“ blickt sie in der Geschichte auf ein Justizhetztheater zurück: Am 4. Februar 1739 fand nach elfmonatiger Prozess-Farce die öffentliche Hinrichtung des ehemaligen Geheimen Finanzrats Joseph Süß Oppenheimer statt, verächtlich „Jud Süß“ genannt, der bei Wilhelm Hauff und Lion Feuchtwanger später zur literarischen Figur wurde. Zwölf Meter hoch ist der Galgen, der höchste weit und breit; sechs Jahre lang lässt man den Leichnam in einem Käfig baumeln. In Erdtmanns Buch kondensiert sich viel über Judenhass, Diskriminierung, Intoleranz, Verbohrtheit. Unser aller historisches Gepäck. Ein spitzer Stein in unseren Schuhen.

 

Raquel Erdtmann: Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein Justizmord. 

Steidl. 

272 S., EUR 24,70

22. Komplett Kafka

Nicolas Mahler: Komplett Kafka.

Im Ostseebad

Franz Kafka ist der Jahresregent 2024. Über den vor 100 Jahren verstorbenen Prager Versicherungsbeamten und Dichter sind unlängst ganze Bibliothekswände neuer Werkseditionen sowie Betrachtungen zu Humor, Religion oder einen Aufenthalt im Ostseebad Müritz anno 1923 erschienen. Vieles davon deckt auch Nicolas Mahler, 55, in „Komplett Kafka“ ab. Der Wiener Zeichner wendet bei Kafka die erprobte Mahler-Methode an: Er nimmt die Größen der Literatur (siehe Robert Musil, Thomas Bernhard) sympathisch schroff in die Mangel – und rettet so auch Werk und Leben des Pragers vor Verklärung und Verharmlosung.

 

Nicolas Mahler: Komplett Kafka. 

Suhrkamp. 

127 S., EUR 18,50

23. I’m a Fan

Sheena Patel: I’m a Fan

Erbarmungslose Obsession

Im Zentrum „der Mann, mit dem ich zusammen sein will“, auf der Seitenlinie seine Ehefrau und „die Frau, von der ich besessen bin“, irgendwo dazwischen der „Fan“. Aber wer braucht wen am Ende? Der Fan das Objekt seiner Begierde oder andersherum?

 

Sheena Patel: I’m a Fan.

Aus dem Englischen von Anabelle Assaf. Carl Hanser Verlag.
240 S., EUR 20,00 

24. Krach

Tijan Sila: Krach.

Erwachsen werden

In seinem Roman „Krach“ widmet sich der heurige Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises humor- und liebevoll der identitätsstiftenden Kraft von Subkulturen. 

 

Tijan Sila: Krach.

Kiepenheuer und Witsch.

272 S., EUR 20,00 

25. Die Leidenschaft

 Annie Ernaux: Die Leidenschaft

Schwebezustände

Unerschrocken. Schonungslos. Annie Ernaux. Muss man mehr sagen?

 

Annie Ernaux: Die Leidenschaft.

Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp. 

80 S., EUR 20,00 

26. Eine Blume ohne Wurzeln

Nada Chekh: Eine Blume ohne Wurzeln

Doppelleben & Doppelmoral

Erwachsenwerden zwischen zwei Welten; auf der einen Seite der Wiener Gemeindebau, auf der anderen die ägyptisch-palästinensische Community. Chekh beschreibt in Eine Blume ohne Wurzeln ihren Weg zu sich selbst.

 

Nada Chekh: Eine Blume ohne Wurzeln.

Haymon.

224 S., 17,90 €

27. Ilias

Homer: Ilias. Odyssee. Deutsch von Johann Heinrich Voß.

Das Reisen an sich

Wenn einer eine Reise tut, so kann er viel erleben: Der Kalenderspruch wird dem Dichter Matthias Claudius (1740–1815) zugeschrieben. Dass das Wesen des Unterwegsseins damit hinlänglich umschrieben ist, mag glauben, wer will. Schon Jahrtausende zuvor kulminierte die Fortbewegungsform des Reisens in zwei unübertrefflichen Texten: Homers „Ilias“ und „Odyssee“ sind prall gefüllt mit Abenteuern und Fantasy, Heldentaten und Albernheiten, mit Weiterschreibungen von Lebens-, Liebes- und Ehekrisen. Genereller Packhilfe-Hinweis: Wenn einer oder eine eine Reise tut, so kann er oder sie mit Homer verlässlich alles erleben.

 

Homer: Ilias. Odyssee. 

Deutsch von Johann Heinrich Voß. Reclam.
1054 S., EUR 28,80

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.

Eva  Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.