Sein Geheimnis nahm er mit ins Grab
Selten passte die Phrase von den Geheimnissen, die ein Mensch mit ins Grab nimmt, wohl besser als im Fall von Cormac McCarthy. Die gesicherten Informationen über den auf den wenigen existenten Fotos mit gefrorener Miene dreinblickenden Autor, der 1933 in Providence, US-Bundesstaat Rhode Island, geboren wurde, sind äußerst rar. Belegt sind ein abgebrochenes Studium und eine Episode als Automechaniker.
1965 erschien sein Erstling „Der Feldhüter“, McCarthys frühe Geschichte vom Fressen und Gefressenwerden. Im Herbst 2022, mehr als 15 Jahre nach seinem letzten, in Hollywood verfilmten Roman „Die Straße“ und fast sechs Jahrzehnte nach seinem Debüt veröffentlichte er den Doppelroman „Stella Maris“ und „Der Passagier“, sein erzählerisches Testament. Dazwischen liegen Dekaden weltabgewandten Schreibens, die McCarthys Ruhm ins schier Unermessliche steigerten. Annie DeLisle, McCarthys zweite Frau, erinnerte sich einst in der „New York Times“ an das Leben mit dem puristischen Autor: „Es hätte jemand anrufen und ihm 2000 Dollar für einen Vortrag über seine Bücher an der Universität bieten können. Er hätte entgegnet: Alles, was ich zu sagen habe, steht auf dem Papier. So ernährten wir uns auch die folgende Woche von Bohnen.“ Später deckte die Verfilmung von „No Country for Old Men“ durch die Coen-Brüder den Essenstisch im Hause McCarthy wohl üppiger.
Nach unterschiedlichen Zählungen hat der Schriftsteller zwei beziehungsweise vier viel beredete und berätselte Interviews gegeben, die dazu beitrugen, ihn zu einem der bekanntesten Außenseiter der US-Literatur zu machen. 2009 versteigerte das Auktionshaus Christie‘s in New York McCarthys alte Olivetti-Schreibmaschine, auf der er bis dahin seine Bücher geschrieben hatte, für rund 250.000 Dollar.
McCarthys angestammtes Habitat als Erzähler waren die planetarisch kühlen Endlosebenen der Steppen und Wüsten. Der Roman „Verlorene“ (1979) heißt im englischsprachigen Original schlicht „Suttree“, was den Inhalt ziemlich bündig erfasst: Der Eigenbrötler Cornelius Suttree lebt auf einem Hausboot am Ufer des Tennessee-Rivers. Die Geschichte eines Gefallenen in karger Prosa. Cowboys, eine Ranch im texanischen Nirgendwo, Pferdekoppeln und Probleme mit der Polizei: „All die schönen Pferde“ (1992), Band eins der sogenannten „Border“-Trilogie, zauberte aus wenigen Bausteinen große finstere Literatur.
McCarthys Romane sind Momentaufnahmen einer grotesk entschleierten Wirklichkeit, sparsam bevölkert von angezählten Figuren, mit Gesichtern unter dem Eindruck des existenziellen Entsetzens, stur durch alle Zumutungen des Daseins weiter stapfend. Auf Hoffnung und Zuversicht, die beiden preisgünstigen Nothelfer, geben diese Verlorenen nichts mehr. McCarthys so kantige wie lyrische Prosa, deren Sätze nie lehrbuchhaft und belehrend klingen, illustriert diese Wild-West-Welt als unauslöschliche Miniaturmalerei.
Bis zuletzt blieb Cormac McCarthy der störrische Überraschungskünstler, der auf Moden und Meinungen pfiff und sich um Kleinigkeiten wie angesagte Buchverkaufstrends nichts scherte. Die Party ist vorbei. Davon handeln „Der Passagier“ und „Stella Maris“. Das Jahr 1980, New Orleans, Louisiana, die Geschichte des Bergungstauchers Robert „Bobby“ Western, die McCarthy fröhlich ins Mystische und Religiöse kippen lässt, dabei Tiefgründiges, Philosophisches, Banales und Verquasseltes mischt. Stille und Schwärze am Schluss. Bald, so orakelt McCarthy in seinen Abschiedsromanen, werde der allerletzte Mensch allein im Universum stehen, während es um ihn herum dunkel werde: „Wenn die Menschheit nur den letzten Tag des 21. Jahrhunderts erreichte“, mutmaßt der Autor, müsste das bereits als Erfolg gelten. Am Dienstag ist Cormac McCarthy 89-jährig in seinem Haus in Santa Fe, US-Bundesstaat New Mexico, gestorben.