Valentin Schwarz: „Wir surfen in ganz anderen Klangwelten.“
______________
Von Manuel Brug
______________
Valentin Schwarz? Valentin, wer? Als Katharina Wagner im Juli vor drei Jahren im Rahmen der wiederkehrenden Pressekonferenz zum Auftakt der Bayreuther Festspiele den Namen von Valentin Schwarz als vorgesehenen „Ring des Nibelungen“-Regisseur 2020 bekannt gab, mussten die meisten
der anwesenden Journalistinnen und Journalisten zuallererst eine Google-Suche starten. Zu diesem
Zeitpunkt hatte der 1989 im oberösterreichischen Altmünster am Traunsee geborene Sohn berufsmusikalischer Eltern als Regisseur keine zehn Inszenierungen in seinem Werklebenslauf stehen.
Die Online-Suche ergab (und ergibt) eine Karriere im Schnelldurchlauf. Schwarz studierte Musiktheaterregie an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – und erregte dort 2009 Aufsehen mit einer Adaption von Claude Debussys Mysterienspiel „Le Martyre de Saint Sébastien“. In der Hauptrolle und mit schier überwältigender Bühnenpräsenz: der Wiener Kolumnist und TV-Host Hermes Phettberg. Als Diplomarbeit nahm sich Schwarz später „Giuditta“ vor, Franz Lehárs letzte zu Lebzeiten entstandene Operette.
2017, zwei Jahre vor besagter Pressekonferenz, gewann Schwarz in Graz den vom hiesigen Wagner-Verband ausgerichteten Regiewettbewerb „Ring Award“, der bereits Stefan Herheim („Parsifal“, 2007) sowie Tobias Kratzer („Tannhäuser“, 2019) den Weg auf den Grünen Hügel mitgeebnet hatte. Eine Auszeichnung, der ein kühner Coup folgte: Schwarz, der bis heute jugendhafte Theatermann mit fülliger Lockenpracht, drückte der in Graz weilenden Bayreuth-Chefin und Komponisten-Urenkelin Katharina Wagner ein fertiges „Ring“-Konzept in die Hand. Wagner soll nicht wenig überrascht gewesen sein.
An den „Ring Award“-prämierten Österreicher erinnerte sich Wagner, als der Bayreuth-Intendantin bereits in der Vorplanung für die Saison 2020 mindestens drei Personalien für die neue, besonders einprägsam geplante Tetralogie, die im Festspielhaus an sechs Tagen über die Bühne zu gehen hat, abhandengekommen waren. „Kinder, schafft Neues“, hatte anfänglich der Ahnherr verkündet, und so schlug die Stunde des Valentin Schwarz.
Bekanntlich kam aber alles anders. Mitte März 2020 trat der erste Corona-Lockdown in Österreich in Kraft, in Deutschland folgte der öffentliche Shutdown unmittelbar darauf. Die Bayreuther Festspiele fielen pandemiebedingt ins Wasser; der „Ring“ musste auf 2022 verschoben werden, weil die Sängerinnen und Sänger für 2021 bereits andere Probenverpflichtungen eingegangen waren.
Ich finde die Kontinuität, mit der in Bayreuth Wagners Werke befragt werden, wichtig. Schön, dass ich dabei mitspielen darf.
Es half im ersten Corona-Jahr auch nichts, dass Schwarz, Jahrgang 1989, vor Probenbeginn noch keck daran erinnert hatte, dass er bei der schließlich stornierten „Rheingold“-Premiere sogar 200 Tage jünger gewesen wäre als „Ring“-Regielegende Patrice Chéreau 1976, damals 31, der lange Zeit den Titel des jüngsten „Ring“-Spielleiters tragen durfte.
Weiter im Werkverzeichnis von Valentin Schwarz: Er assistierte beim Schweizer Theaterregisseur, Opernregisseur und Intendanten Jossi Wieler und beim deutsch-italienischen Dramaturgen Sergio Morabito, bei den Regiegrößen Armin Petras und Kirill Serebrennikow. In der Zeit vor dem „Ring“ inszenierte Schwarz in Darmstadt, Köln, Wien, Stuttgart, Montpellier und Karlsruhe Opern und Operetten, Haydn, Bizet, Puccini, Donizetti. In Weimar gastierte er etliche Spielzeiten lang, aus diesem Abschnitt stammt auch die Bekanntschaft mit der Dramaturgin Kathrin Kondaurow, die später Intendantin der Staatsoperette Dresden wurde – wo Schwarz unmittelbar vor dem geplanten Bayreuther Auftakt 2020 Jacques Offenbachs Räuberpistole „Die Banditen“ mit dekonstruktivistischen Knalleffekten à la Castorf abfeuerte.
Von Offenbach zu Wagner, von der Staatsoperette auf den Grünen Hügel: Das ist, als Musikwahl wie als Karrieresprung, durchaus unorthodox. Im Sommer 2021, nach der pandemiebedingten Zwangspause, wurde in Bayreuth hinter den Kulissen wieder fleißig der „Ring“ geprobt. Die Stimmung, war damals zu hören, sei gut, alle seien höchst motiviert am Werk. Dazu kam, dass parallel dazu die „Walküre“ in einem Live-Schütt-Bühnenbild von Hermann Nitsch konzertant gegeben wurde. Pech nur: Schwarz verlor kurzfristig seinen ersten Wotan. Der Niederösterreicher Günther Groissböck gab die Rolle zurück, da sie ihm zu schwer war.
In der Spielzeit 2021/22 stellte Schwarz alle seine Inszenierungspläne hintan. Bis auf einen: Seiner ehemaligen Wiener Dozentin Birgit Meyer zuliebe brachte er in deren letztem Jahr als Intendantin an der Kölner Oper das Stück „Der Meister und Margarita“ des Kölners York Höller nach Michail Bulgakows berühmten Roman zur Premiere.
Schwarz begründete seine Entscheidung damals wie folgt: „Höller ist ein wunderbarer Kontrapunkt zu Wagner. Es macht großen Spaß, sich neben dem maßlosesten musiktheatralen Werk des 19. Jahrhunderts mit einer total großformatigen Oper der 1980er-Jahre zu beschäftigen, als alle Komponisten im Sinne der zeitgeschichtlichen Relevanz wirklich jedes mögliche musikalische Mittel auffahren ließen. Und ich liebe diese überbordende, satirisch-fantastische Vorlage von Bulgakov in ihrer sprudelnden Fantasie. Als Regisseur muss man freilich aufpassen, dass man sich nicht verheddert, dass man in dieser orgiastischen Anlage einer Spur folgt.“
Im Februar 2022 dann die nächste Welterschütterung. Russlands Invasion in der Ukraine. Kurz nach Beginn des ersten Krieges auf europäischem Boden nach 1945 inszenierte Schwarz eine bitterböse Satire über den Pakt eines von Jesus plappernden, faustischen Schriftstellers im Irrenhaus, umringt von dunklen Mächten, eingebettet in die wirren revolutionären Moskauer Zustände der 1920er-Jahre samt schillernder Nihilismus-Glorie.
Für den bei der „Meister und Margarita“-Premiere im April verhinderten (Covid!) und beim Schlussapplaus per Laptop anwesenden Schwarz schien der Termin richtig gewählt – als Bekräftigung jenes Guten und Wichtigen in Literatur und Musik, das aus Russland stammt. Obwohl auf der weiten, meist leeren Bühne (mit Ausnahme von wenigen kyrillischen Schriftzeichen) überhaupt nichts zu sehen war, das an Mütterchen R. erinnerte.
Moskau war hier geistige Heimat, die man vergeblich mit der Seele sucht. Und die dennoch frösteln machte.
Mit dabei waren damals Andrea Cozzi (Bühne und Video) sowie Andy Besuch (Kostüme), Schwarz’ derzeitiges „Ring“-Team, das beim Design für „Meister und Margarita“ fröhlich zwischen schöner Leere und bunten Karnevalskostümen wechselte, während im Orchester zum Ball der Teufel aufgerufen wurde, indem das von Bulgakow-Fan Mick Jagger ersonnene „Sympathy for the Devil“ zu hören war.
Apropos Teufelszeug. Im Vorfeld der „Rheingold“-Premiere am Hügel – der „Ring“ startete vergangenen Sonntag und endet diese Woche mit der „Götterdämmerung“ – kam Schwarz aufgrund von Long Covid ein zweiter Wotan abhanden; der ebenfalls schwer an Infektionsfolgen laborierende Dirigent Pietari Inkinen musste kurzfristig durch den für den „Tristan“ vorgesehenen Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister ersetzt werden, während Markus Poschner, Chef des Linzer Bruckner Orchester, den „Tristan“ übernahm.
Schwarz erträgt auch diese Unbill, wie es scheint, stoisch. Seit Monaten lebt und arbeitet er nun in Oberfranken, er spricht fränkisch-light. Er ist, man kann es nicht anders nennen, an diesem Julinachmittag trotz letzter, intensiver Proben die Ruhe selbst: „Bayreuth ist die beste Motivation für diesen Wahnsinn. Natürlich gib es immer wieder Momente des Zweifelns, aber seit das Orchester dabei ist, surfen wir noch einmal in ganz anderen Klangwelten.“
Hinter der Wellblechtür von Probebühne VI geht es wenige Tage vor der Premiere in einem schmuddeligen Kulissenkinderzimmer um die sogenannte Wissenswette, jenen Wettstreit des Wissens im „Siegfried“ zwischen Wotan und dem Alberich-Bruder Mime, der den Waisenknaben Siegfried aufgezogen hat.
Der neue, aber wie ein alter Wotan spielende Tomasz Konieczny und Arnold Bezuyen legen sich ins Zeug. „Es ist einfach großartig, wie es mit Tomasz sofort Klick gemacht hat“, lobt Schwarz seinen entfesselten Hauptdarsteller. „Einem geeichten Wagnersänger braucht man kaum etwas zu erklären. Konieczny kommt soeben aus einer Zürcher Produktion, kann die Rolle im Schlaf, hat Videos der Proben gesehen. Er ist enthusiastisch eingestiegen, hat nur noch 20 Punkte als Fragen formuliert. Natürlich kennen sich die Wagner-Stars untereinander. Das ist sofort Family. Eine sehr schöne Atmosphäre. Ich hinterfrage mich zugleich und fordere das auch von den Sängern ein. Die sind in dieser Hinsicht völlig empfänglich. Dabei sind die alle unheimlich relaxed. Sie müssen sich nichts mehr beweisen.“
Ich hatte die Freiheit des Ausprobierens – und erlebte die unterschiedlichen Theater stets als Freiräume.
Und die von nicht wenigen gefürchtete Chefin? „Katharina Wagner hilft extrem“, sagt Schwarz: „Es ist beglückend, zu erleben, wie sie hinter dem Projekt steht. Sie schaut oft vorbei, sucht die Vermittlung, will vor allem bei Corona-Problemen helfen. Diese Leitung steckt emotional tief mit drin.“
Herr Schwarz, gab es eine Alternative zum Regieberuf? „Plan B war für sehr dunkle Stunden. Musik und Theater standen sehr klar am Horizont.“ Seine Eltern haben Valentin regelmäßig in die Oper mitgenommen, im Kultur-Bermudaviereck Salzburg-Linz-Wien-Traunsee. „Opernschauen ist schließlich ein erlerntes Vergnügen, das bei mir schnell zündete. Gerade Wagner als märchenhafte Suggestion ist für Kinder wie geschaffen. Ich hatte als Heranwachsender die Freiheit des Ausprobierens – und erlebte die unterschiedlichen Theater stets als Freiräume, als Utopie im spielerischen Sinn. Nichts ist hier für die Ewigkeit.“
Bayreuth ist für Valentin Schwarz nur ein weiterer Schritt. Die Ehrfurcht davor versucht er auszublenden. Deshalb vielleicht machte schnell sein eigenes Schlagwort vom „Netflix-Ring“ die Runde. Dabei geht es ihm keineswegs um TV-Ästhetik oder Realismus. „Ich schaue nicht links und rechts. Das ist regelrechte mystische Askese, wie man sich hier in ein einzelnes Werk versenkt, da hat Tagespolitik nichts verloren. Wir erzählen eine Geschichte, die mehr ist als vier Opern – mit viel Kongruenz und Referenz auf die anderen Stücke. Selbst Wagner stand bereits vor diesem Problem, weil er sich aus diversen Storys seinen collagierten Mythenwahnsinn gestrickt hat. Die Sache geht nur auf mit seinem verweisenden Musiksystem, das wir heute Leitmotivik nennen.“
Das ist womöglich jene Form der Kontinuität, die wir heute dringend brauchen, weil wir durch die Krisen unserer Zeit jäh vereinzelt werden, keine Ankerpunkte mehr finden. „Das netflixartige am ,Ring‘?“, fragt Schwarz – und hat gleich eine Antwort parat: „Die Sehnsucht nach Fortgang! In Bayreuth wird das universell seit 1876 mit jeder Weitererzählung geleistet – längst natürlich jenseits von Drachen, Riesen und Zwergen. Der Mythos kann immer für das Hier und Jetzt entdeckt werden, ob von Chéreau oder Castorf. Das hört nie auf, und wir haben immer noch keine Einigkeit darüber, was der ,Ring‘ eigentlich bedeutet.“
Ein letzter Szenenwechsel, und zwar buchstäblich. Auf die „Ring“-Reflexion folgt das „Ring“-Bühnenhandwerk. Die Sänger haben Probleme mit dem neu verlegten Teppichboden, der den Hall im spitz zulaufenden Bühnenbild schlucken soll. Schwarz ist ganz bei ihnen, hört zu, man diskutiert Lösungen.
Alles ist hier im Interpretationsfluss. „Und alle wollen es besser und anders machen. Jeder giert nach Anregungen“, sagt Schwarz: „Es geht auch nicht, wie gesagt, um den ,Ring‘ für die Ewigkeit.“ Alles seien schließlich Stufen. „2026 folgt zum 150. Bayreuth-Jubiläum der nächste Anlauf. Ich finde die Kontinuität, mit der hier die Werke befragt werden, wichtig. Schön, dass ich dabei mitspielen darf. Ich habe freie Hand, genau die Geschichte zu erzählen, die ich erzählen möchte. Und die hoffentlich gerade heute interessant ist.“
Und was plant Schwarz, der in Wien und Stuttgart lebt, nach diesem Sommer? „Urlaub“, sagt er: „Einen sehr, sehr langen.“