Venedigs Goldener Löwe geht an den Athener Regie-Virtuosen Yorgos Lanthimos
Für Formenreichtum, Freiheit und Fantasie, aber auch für politische Wachheit, Solidarität und Humanismus plädierte die Jury, der – unter dem Vorsitz des US-Regisseurs Damien Chazelle – unter anderem die Filmemacherinnen Jane Campion, Mia Hansen-Løve und Laura Poitras angehörten, am Samstagabend bei der Preis-Gala im Sala Grande der Filmfestspiele am Lido di Venezia. Die höchste Auszeichnung, die sie zu vergeben hatte, den Goldenen Löwen, behielt sie einem Werk vor, das unmittelbar und mit freiem Auge als der außergewöhnlichste Film dieses Festivals zu erkennen war: die Horror-Groteske „Poor Things“, eine britische Produktion, inszeniert von dem Griechen Yorgos Lanthimos, der – als Schöpfer großer surrealistischer Gesellschaftsanalysen wie „The Lobster“ (2015) oder „The Favourite“ (2018) – seit mehr als einer Dekade zu den künstlerisch bedeutendsten Filmemachern der Welt zählt, hat alle Intensitäten parat, die großes Kino ausmachen: scharfen Witz, soziale Intelligenz, atemraubende Bildwelten sowie Sinn für überraschende Wendungen und gegenwärtige Debatten.
„Poor Things“ kreist um eine junge Londonerin, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem durchgeknallten Wissenschaftsgenie (Willem Dafoe) tot aus der Themse gefischt wird und in dessen Geheimlabor erst mit dem Gehirn ihres ungeborenen Kindes ausgestattet und anschließend reanimiert wird. Eine linkische Schöne auf dem psychischen Stand eines Kleinkinds lernt nun die Welt kennen – und diese umgekehrt auch sie: Emma Stone, die jene „unglaubliche Kreatur“ spiele (und übrigens selbst auch eine solche sei), dieser Ausnahmedarstellerin, so versicherte Lanthimos in seiner Rede noch, könne er gar nicht genug danken.
Die Auszeichnungen für das beste Schauspiel aber, die in Venedig, lauter werdender Kritik zum Trotz, immer noch nach dem faschistischen Politiker (und ersten Biennale-Präsidenten) Giuseppe Volpi benannt sind, verlieh man der Amerikanerin Cailee Spaeny, 25, die in Sofia Coppolas neuem Film „Priscilla“ Elvis Presleys junge Gemahlin verkörpert, und ihrem Landsmann Peter Sarsgaard, 52; er wagt sich in Michel Francos präzisem Liebesfilm „Memory“ an die Aufgabe, die emotionalen Komplikationen eines an Demenz Erkrankten zu spielen. Sarsgaard erinnerte an den prolongierten Streik in Hollywood, der sich auch gegen die Zumutung der Künstlichen Intelligenz in der Kunst richte; wenn man zulasse, dass nicht mehr „Personen“ Drehbücher schrieben und Filmrollen spielten, sei dies nur der erste Schritt einer umfassenden Demontage des Menschlichen, die alles Weitere prägen werde, „von der Krankenbetreuung bis zu den Kriegen“.
Einen Silbernen Löwen gab es, als Großen Preis der Jury, für die filigrane Regiearbeit des Japaners Ryūsuke Hamaguchi, der auf seinen Welterfolg „Drive My Car“ (2021) nun die ökologisch grundierte Dorffabel „Evil Does Not Exist“ folgen ließ. Die Würdigung für das beste Drehbuch heimsten die Chilenen Guillermo Calderón und Pablo Larraín für ihre finstere Politsatire „El Conde“ ein, in dem der Diktator Augusto Pinochet als verkrachter Vampir durch die jüngere Menschheitsgeschichte streift.
Für den jüngsten Film des Italieners Matteo Garrone („Gomorrha“), den dieser „Io Capitano“ nannte, machte man gleich zwei Trophäen locker: Den Marcello-Mastroianni-Nachwuchspreis vergab man an den senegalesischen Hauptdarsteller Seydou Sarr – und einen weiteren Silbernen Löwen für die beste Regie. Garrones „Io Capitano“ kreist um die Fluchtgeschichte zweier junger Afrikaner, die von Dakar aus Europa zu erreichen versuchen. Mit den potenziell tödlichen Konsequenzen der Migration befasste sich auch die aus Warschau stammende Filmemacherin Agnieszka Holland: Ihr an der polnisch-belarussischen Grenze spielendes Drama „Green Border“ erhielt den Spezialpreis der Jury. In ihrer Dankesrede wies die 74-Jährige darauf hin, dass seit 2014 mindestens 60.000 Menschen auf ihrem Weg nach Europa gestorben sind – „weil wir beschlossen haben, ihnen nicht zu helfen“. All jenen, die dies doch tun oder es wenigstens versuchen, widmete sie ihren Film.
Die drei Hauptpreise, die im Rahmen des innovativeren Formaten vorbehaltenen Zweitwettbewerbs Orizzonti vergeben wurden, trafen ebenfalls würdige Kino-Arbeiten: Der Ungar Gábor Reisz räumte mit seiner sozialpolitisch hellwachen „Explanation for Everything“ die Auszeichnung für den stärksten Film ab. Als beste Regisseurin zeichnete man die junge Schwedin Mika Gustafson aus – für ihre energetischen Schwesternhymne „Paradise is Burning“. Und der Orizzonti-Spezialpreis der Jury ging an den 31-jährigen Römer Alain Parroni, der in seinem Debüt „An Endlos Sunday“ ebenfalls die Ausbruchsbewegungen der Teenager in einer krisengeschüttelten Gegenwart poetisiert.