Kino

Verletzte Seelen unterwegs: Alexander Paynes hinreißende Tragikomödie „The Holdovers“

Immer Ärger im Knabeninternat: Der Film „The Holdovers“ führt in das Amerika der frühen 1970er-Jahre – und präsentiert den Ausnahmeschauspieler Paul Giamatti in einer neuen Glanzrolle.

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Sein Zynismus hat die Effizienz eines Skalpells: Professor Paul Hunham unterrichtet an einem sehr traditionellen Privat-Internat in New England um 1970 klassische Altertumskunde. Er versucht die Teenager, die in seine Klasse geraten, mit Strenge, Wortgewalt und Boshaftigkeit zu Disziplin und Bildung zu zwingen. Die Antipathie, die ihm entgegenschlägt, fasst er als Zeichen dafür auf, alles richtig gemacht zu haben.

Filme wie dieser erinnern einen daran, wie sehr das eigentlich Gewöhnlichste im Gegenwartskino zur Ausnahme geworden ist. „The Holdovers“ ist durchdrungen von dem Wissen, dass die Spektakel des Alltags faszinieren können. Und dass es möglich ist, einen heiteren Film über Trauer und Einsamkeit zu drehen, mit dem auch Erwachsene etwas anfangen können.

Die im Titel genannten „Überbleibsel“, das sind jene paar Jugendlichen, die während der zweiwöchigen Weihnachtsferien nicht zu ihren Familien können, stattdessen mit dem alleinstehenden Hunham (Paul Giamatti) und einer Köchin, die sie alle verpflegt, an der viel zu großen Schule bleiben müssen. Die Schauspielerin Da’Vine Joy Randolph glänzt als abgebrühte Küchenmanagerin Mary, die den Verlust ihres Sohnes in Vietnam verkraften muss, sich dennoch den nötigen Respekt verschafft. Gemeinsam mit dem einzigen Schüler, der nach dem Abgang seiner Kollegen noch bleibt (starkes Filmdebüt: Dominic Sessa), unternehmen Hunham und Mary eine Reise nach Boston: drei verletzte Seelen unterwegs. Am Ende ist es aber der unvergleichliche Paul Giamatti (er trat bereits 2004 in Paynes Rebensaft-Roadmovie „Sideways“ auf), dessen immense Differenzierungskunst diesen Film trägt: ein Virtuose der Ambivalenz und der komödiantischen Überhöhung, der zu amüsieren und zu berühren versteht.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.