"Voices" von Max Richter: Dunkle Materie
Kein Pandemie-Gespräch wie jedes andere. Max Richter, 54, nimmt nicht im Trainingsanzug vor der Computerkamera Platz. Schwarzer Rollkragenpullover, aufrechte Sitzposition, gutbestückte Bücherwand, gediegener Lederstuhl – bei dem britischen Komponisten mit deutschen Wurzeln stimmt jedes Detail. Über Corona, so will es die Videokonferenzstimmung, muss eingangs dennoch gesprochen werden.
Es sei paradox, sagt Richter nach kurzem Nachdenken, aber für ihn habe sich durch den globalen Lockdown nicht viel verändert. Er verbringe ohnehin einen Gutteil seiner Zeit im ruhigen Kämmerchen, komponiere, schreibe und verwerfe. Für jene Musiker, die in Orchestern spielen und vor Publikum auftreten müssen, sei dieses Jahr aber eine reine Katastrophe: „Über Nacht hat sich für viele das gesamte Leben verändert.“ Immerhin, so meint er: Die Menschen haben sich wieder vermehrt der Musik, der Kultur, der Kreativität zugewandt – auch den Menschen die sie lieben. Nachsatz: „Es scheint fast so, als würden wir erst in solchen Zeiten merken, was uns im Leben wirklich wichtig ist.“
Den perfekten Soundtrack zur Krise hat Richter bereits vor fünf Jahren veröffentlicht. Acht Stunden und 24 Minuten lang dauert sein monumentales Wiegenlied „Sleep“, das von Radiostationen wie der BCC Mitte April, am Höhepunkt der ersten Corona-Welle, in voller Länge gesendet wurde – ein sich wiederholender Strom langsamer, sanfter Klangvariationen, für die er Violinen, Viola, Violencelli, Orgel, Synthesizer und sein Piano nutzt. Dieses epische Schlaflied, sagt Richter, sei ein sehr funktionales Stück Musik, „ein Ort zum Ausruhen“ – für ihn auch eine Art Selbstmedikation, das als Gegenmittel konzipiert wurde, als Antidot gegen das hektische Social-Media-Leben. Es sei „schön zu sehen, dass diese Musik den Alltag für einige Menschen ein wenig erträglicher machen konnte“.
Berührungsängste kennt Richter nicht. In seinen Kompositionen changiert der umtriebige Komponist seit Jahren bewusst frei zwischen Klassik („Vivaldi – The Four Seasons“, 2012), Ambient, Post-Rock und Elektro-Einflüssen. Mit seinen Soundtrack-Arbeiten für Filme wie „Waltz with Bashir“ oder zuletzt „Ad Astra“ sowie TV-Serien („The Leftovers“, „My Brilliant Friend“) avancierte Richter neben Künstlerinnen wie der Isländerin Hildur Guðnadóttir („Joker“) oder dem vor zwei Jahren verstorebenen Komponisten Jóhann Jóhannsson zum Superstar der Post-Klassik. Ein Film sei eine besondere Herausforderung; man arbeite im Kollektiv und versuche mit Regisseuren und Schauspielern ein Puzzle zu lösen – die Musik sei dann Teil einer größeren Komposition. „Ein Filmscore ist eben keine Symphonie“, sagt er lachend: „Das ist wie ins Fitnessstudio zu gehen.“ Man arbeite eben besonders präzise und effizient – und sollte dabei stets ressourcensparend bleiben.
Nun also „Voices“. Seine aktuelle Komposition – Richter betont nebenbei, dass er parallel stets an mehreren Projekten arbeite – basiert auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Neu sei die Idee nicht, sie begleite ihn schon gut zehn Jahren, erzählt er. Damals kamen die Foltermethoden der CIA in Guantanamo ans Licht der Weltöffentlichkeit. Für ihn war das eine Zäsur, sagt er heute: „Die Welt hatte eine falsche Richtung eingeschlagen.“ Richtig zufrieden war er mit diesen Kompositionen aber nie, so mutierten sie immer weiter. Dass die Stücke im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung aktueller denn je erscheinen, wundert ihn nicht; relevant sei die Menschenrechtserklärung ja leider immer. „Voices“ wollte er zuerst in der Tradition klassischer Protestsongs verorten, also durchaus wütende Musik produzieren – mit viel Noise, mathematischer Präzision und dem brutalen Modernismus der 1950er Jahre. Über die Jahre habe sich der Sound aber radikal verändert. „Denn die Lauten und Wütenden haben sich mit dem Aufkeimen eines neuen Populismus in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt“, meint er. Ein weiteres Zornstück wollte er diesem Trend nicht hinzufügen, lieber den Fokus der Komposition ändern – weg vom Problem hin zur Lösung. „Die Menschenrechtserklärung ist die Idee einer möglichen Zukunft“, sagt Richter nachdenklich.
Nur wenige Tage vor dem Corona-Lockdown, im Februar, hat er die neuen Tracks in London endlich eingespielt – mit einem so genannten Upside-Down-Orchester. Wenn die Welt schon Kopf stehe, müsste sich dieser Umstand auch in der Wahl der Instrumente spiegeln. Das Orchester besteht hier fast nur noch aus Bässen und Cellos: „Aus dunklen Klangmaterialien wollte ich erbauliche Stücke machen.“ Herausgekommen ist eine ergreifend schöne, fast filmische Meditation über die Grundwerte des Menschen – viel Pathos und Hoffnung inklusive.
In 70 verschiedenen Sprachen kann man die Erklärung auf „Voices“ hören. Richter hat seine Fans online aufgerufen, ihm Textpassagen einzusprechen – dazu verwendet er Interpretationen von Eleanor Roosevelt und der Schauspielerin KiKi Layne („If Beale Street Could Talk“). Die Texte dienen ihm als akustischer Rahmen, erklärt er. Die Musik fließe dann einfach durch. Er war überrascht, sagt er im profil-Gespräch noch, dass ihn so viele Einsendungen aus Ländern erreicht haben, in denen diese Prinzipien mit Füßen getreten werden, in denen es viel Mut brauche, für die Menschenrechte einzutreten.
Wird das Live-Spielen vor Publikum jemals wieder so sein, wie es einmal war? „Es ist ein unglaublicher Verlust“, sinniert Richter, „wenn Menschen nicht mehr zusammenkommen können, die gemeinsamen Erfahrungen fehlen. Allein der Gedanke, wieder auf einer Bühne zu stehen und spielen zu können, fühle sich wie der Sprung in eine andere Welt an. „Fast wie ein Märchen.“
Max Richter: „Voices“ (Deutsche Grammophon)
Hinter der Geschichte:
Nicht erst seit dem Lockdown lässt sich Philip Dulle gerne von Richters Schlummeralbum durch die Nacht begleiten. Umso besser, dass es "Sleep" seit ein paar Wochen auch als Smartphone-App gibt, die nicht nur die Schlafphase überwacht, sondern auch beim Meditieren helfen soll. Das ganz und gar nicht verschlafene Interview, das Ende Juni stattfand, wollte Richter, der fließend Deutsch spricht, dann doch lieber auf Englisch führen. Da seien die Antworten einfach präziser.