„Volkskanzler“, definierte 1941 der Duden, ist die „Bezeichnung für Hitler zum Ausdruck der Verbundenheit zwischen Volk und Führer“. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Wallnöfer
Ein Volkskanzler ist einer, der in unserer Gegenwart für sich in Anspruch nimmt, ein Volk zu vertreten. Historisch wurde die politische Besetzung dieses Begriffs mit Hitler und dem Nationalsozialismus lebendig, es gab aber bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren Bemühungen, österreichische Politiker als „Volkskanzler“ oder „Kanzler des Volkes“ zu benennen – vor dem dunklen Hintergrund, die Menschen als ethnisches, rassisch geschlossenes Volk zu fassen. Nicht umsonst bestand die Soziologie nach 1945 darauf, nicht mehr von „Volk“, sondern von „Gesellschaft“ zu sprechen.
Im März 2023 tauchte die Bezeichnung „Volkskanzler Kickl“ erstmals in Presseaussendungen der FPÖ auf.
Wallnöfer
Es sind stets die Rechtsnationalen und -extremen, die sich an ein „Volk“ richten. Nach der Flüchtlingskrise 2015 fand der Begriff inflationär Eingang in die politische Auseinandersetzung. Dabei darf vor allem die Identitäre Bewegung nicht unterschätzt werden, die den Begriff obszön lanciert, ihn dadurch auch in ein Milieu transportiert, das sich von der FPÖ-nahen Nazi-Väter-Generation deutlich unterscheidet. Junge Identitäre machen es schick, locker von „Volk“ zu reden, wenn sie damit sich selbst und ihre unmittelbare Umwelt meinen.
Was also ist das „Volk“?
Wallnöfer
Eine Illusion, eine zusammengezimmerte Vorstellung, der krude Wunsch, wie eine Gemeinschaft zu sein hätte. Das „Volk“ existiert überhaupt erst seit Entstehung der Nationalstaaten als politische Verhandlungsmasse. Wir haben zwei Revolutionen gebraucht, um das, was heute romantisierend und idealisierend „Volk“ genannt wird, sichtbar werden zu lassen. Zuvor war „Volk“ ein verlotterter, Not leidender Haufen, der keine Schuhe und keine Arbeit hatte, weder lesen noch schreiben konnte, in Sklaverei gehalten wurde. Im 21. Jahrhundert kapern nun Populisten und Demagogen den Begriff, indem sie unentwegt vom „Volk“ reden, an dieses appellieren – dabei interessieren sie sich keine Sekunde lang für die Gemeinschaft. Wenn es so wäre, würden sie eine ausgewogene Sozialpolitik machen, dann hätten sie ein Ohr für beispielsweise queere Menschen. Volk ist nicht das, wovon Populisten reden. Es ist historisch und sozialpolitisch falsch, es ist politisch und kulturell daneben.
Sie schreiben, dass Sie in Ihrem Buch den „Sumpf des aufstehenden Populismus“ durchwaten würden. Wie ist dieser beschaffen?
Wallnöfer
Populismus blubbert vor sich hin, treibt giftige Blüten. Populismus ist ein Biotop, in dem letztlich alles versinkt und erstickt. Aus den Schriften des Antaios Verlags, der 2000 vom neurechten Publizisten Götz Kubitschek gegründet wurde, brodelt es abscheulich stinkig.
Sie sprechen den Rechtsnationalen rundweg die Definitionshoheit darüber ab, was ein Volk sei. Wie definieren Sie Österreich?
Wallnöfer
Als eine Gesellschaft, die aus kleinen, großen, dicken, dünnen, gescheiten, weniger gescheiten, gar nicht gescheiten, aus lustigen, depressiven, kranken, gesunden Menschen besteht. Als Summe aller Individuen innerhalb einer Region, eines Dorfes, eines Staates, die einen Reisepass besitzen. Gesellschaft ist das Ergebnis vieler Menschen, die versuchen, miteinander halbwegs auszukommen. Volk im Sinne der Populisten ist dagegen ein rüdes, sanguinisches Fantasma.
Soll sich Herbert Kickl nicht mehr zum „Volkskanzler“ erheben dürfen?
Wallnöfer
Natürlich darf er das. Die unübertreffliche Freiheit der Demokratie macht es möglich, sich zum Volkskanzler, zum Anti-Volkskanzler oder gleich zum Frauenvolkskanzler zu erklären. Wir alle müssen uns aber ernsthaft fragen, ob wir das Volk dieses präsumtiven Volkskanzlers sein möchten. Ich würde sicher nicht zu diesem Volk gehören, Sie wahrscheinlich auch nicht. Wenn wir über Volkskanzlerschaften reden, müssen wir immer auch über uns selbst sprechen.
Sie schreiben, die Sehnsucht nach einer Führerfigur sei mit rationalen Argumenten nicht erklärbar. Uns bleibt am Ende nur die Resignation?
Wallnöfer
Es gibt bereits viele Menschen, die resignieren, weil ihnen die Kraft ausgeht, diesem politischen Wahnsinn streckenweise zu folgen. Kapitulieren hieße, wir würden uns den schwanenden politischen Bedingungen ergeben, weil wir kraft- und hilflos sind. Zu unserem großen Glück gibt es noch eine Gesellschaft, welche die rechten Umtriebe nicht widerstandslos hinnimmt.
Der Philosoph Immanuel Kant forderte, man möge sich seines eigenen Verstandes bedienen. Worauf ließe sich noch zurückgreifen, um die über uns hereinbrechenden Populismus-Wellen zu brechen?
Wallnöfer
So lange ist Kant ja noch nicht tot! Es müssen aber nicht zwangsläufig große Philosophien bemüht werden, denn diese schöpfen am Ende auch nur aus unserem gesamten Dasein. Wir können immer auf die Autonomie des Subjekts zurückgreifen. Alles, was um uns herum passiert, unterliegt keinerlei Naturgesetz. Wir gestalten uns das Paradies und die Hölle schon selbst.
Die zentrale Frage lautet: Wollen wir so leben?
Wallnöfer
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Deutschland sinkt die Kriminalitätsrate seit geraumer Zeit nachweislich. Dennoch sprechen Olaf Scholz und Friedrich Merz im Wahlkampf nahezu ausschließlich über die offenbar von Menschen mit Migrationshintergrund verursachte Kriminalität. Ein Problem wird herbeigeredet, als wäre es real – bis das Reden darüber bei vielen Menschen zum mulmigen, authentischen Gefühl mutiert. Das größte Kapital, das Populisten, Autokraten und Demagogen haben, ist die Erzeugung von Angst. Sie treten zornig und wutentbrannt vor die Menschen und manipulieren deren oft durchaus berechtigte Entrüstung über eine bestimmte Sache. Der österreichische Nationalökonom Otto Neurath wusste bereits: Sobald ein Gefühl manipulativ evident gemacht wird, erscheint es wie wahr und echt. Am Ende dieses hoch emotionalen Prozesses werden dann Sündenböcke gesucht. Wir wissen aus der finstersten Geschichte Europas, wohin das führt.
Wie lautet Ihr Rezept gegen den galoppierenden Populismus?
Wallnöfer
Die demokratischen Parteien müssen einen Schulterschluss herbeiführen und deutlich signalisieren: Dieses Ein-Volk existiert nicht, weshalb wir schon gar keinen Volkskanzler benötigen. Die Sozialpartnerschaft macht es vor: Gegensätzliche Parteien setzen sich an einen Tisch und schaffen eine Politik der Mitte. Insofern ist selbst die ÖVP zu einer Vorfeldorganisation der FPÖ verkommen: Die Partei macht Politik auf Kosten der Ängste vieler Menschen – zugleich mangelt es ihr an jedweden sozialpolitischen Ideen.
Der Autor Josef Haslinger veröffentlichte vor fast 40 Jahren den Essayband „Politik der Gefühle“, in dem er unter anderem konstatierte, politische Konzepte würden vorrangig auf die Gefühls- und Befindlichkeitsebene gelenkt. Leben wir im Politikzeitalter der Verführung?
Wallnöfer
Populisten wissen, dass die perfekte Dramaturgie gleißender Inszenierungen zum Erfolg führt. Deshalb lieben sie alles, was der politische Folklorismus zu bieten hat: Volksfeste, Brauchtümer, Aschermittwoch-Rituale. Diese Politik der Verführung, die ausschließlich auf Emotionen und nie auf klassischer distinguierter Sachpolitik beruht, dient allein dem Zweck, Menschen im Bierzelt am Ende verunsichert nach Hause zu entlassen, Wut, Angst und Zorn in ein Votum in der Wahlzelle umzumünzen. Auf diesen folkloristischen Veranstaltungen wird habituell ein Gestus gepflegt, der das Individuum ermuntert, diesen in seinem Alltag weiter zu betreiben, am Stammtisch, in Freundesrunden. So entstehen gewissermaßen habituelle Wellen. Plötzlich wird es salonfähig, die hässlichsten Dinge zu sagen.
Vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt der Satz, das normale Tempo der Demokratie sei das Schneckentempo. Kickl und Co. müssen geradezu elektrisiert sein von der Geschwindigkeit, die Donald Trump in seiner zweiten Amtszeit an den Tag legt.
Wallnöfer
Trump und die europäische Rechte sind Brüder im Geiste. Die globalen Rechtsnationalen möchten sich, im Schulterschluss mit dem Kapital, zur Weltmacht aufschwingen. Ich fürchte fast, das werden sie irgendwann bewerkstelligen. In dem Moment, in dem die internationale Rechte die Parlamente nicht mehr respektiert und das positive Recht ignoriert, geht uns die parlamentarische Demokratie verloren.
Die in Teilen rechtsextreme AfD bezeichnete den Deutschen Bundestag bereits als „Quasselbude“ …
Wallnöfer
… und der vom Parlament durch einen Misstrauensantrag abgesetzte Sebastian Kurz lamentierte, er habe im Hohen Haus negative Erfahrungen machen müssen. Das ist ebenso eine Herabwürdigung dieser demokratischen Institution wie jener Auftritt des ehemaligen Finanzministers Gernot Blümel, als er ohne Schuhe und nur in türkisfarbenen Socken im Parlament zugange war. Eine Despektierlichkeit sondergleichen. Wie signalisiere ich dem Parlament, dass ich es verachte? Indem ich es zur nervtötenden Quasselbude degradiere, in Socken zu Parlamentssitzungen erscheine.
„Das Eiapopeia vom Himmel“, dichtete Heinrich Heine: „Womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel.“ Sind wir der große Lümmel?
Wallnöfer
Ja. Dafür darf aber niemand gescholten werden. Nicht alle Menschen sind imstande, sich tagtäglich am politischen Kampf zu beteiligen, eben weil sie mit der schieren Bewältigung ihres Alltags zu kämpfen haben. Umso mehr ist es die Pflicht des Bildungsbürgertums, das sich den Luxus der Kritik und des Aufbegehrens leisten kann, auf gewisse Dinge unnachgiebig hinzuweisen. Genau deshalb schreiben Lümmel wie ich Bücher über Volkskanzler.
Große Frage: Ist unsere Demokratie in Gefahr?
Wallnöfer
Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen: Die neue Politik des schlichten Denkens und der flotten, bierseligen Sprüche bedeutet tatsächlich eine Zeitenwende im Politikstil. Noch stehen wir allerdings an einem Punkt, an dem wir eingreifen können. Allein die Tatsache, dass die geplante türkisblaue Regierung jetzt doch nicht stattfinden wird, stellt eine große Chance für alle demokratischen Kräfte dar. Wir sollten uns aber keinesfalls erleichtert zurücklehnen. Andernfalls droht ein diktatoriales System, von dem wir noch nicht abschätzen können, wie gnadenlos es werden wird.
Jetzt neigen Sie zur Schwarzseherei.
Wallnöfer
Wir müssen uns bestimmte Dynamiken drastisch vor Augen führen: jene Dynamiken, die mit Zorn und Wut operieren, deren Schwung reine Sündenbock-Politik zur Folge hat, in deren digitalen Echokammern die Politik als Ganzes verächtlich gemacht wird. Diese Art der Politik entfernt sich von jeder Interessenpolitik, die auf die gesellschaftliche Mitte zielt. Sie hat ausschließlich ein imaginiertes „Volk“, eine Attrappe, im Sinn.
Populisten definieren Sie in Ihrem Buch als „derbe Barockprediger, als Seelenfänger in eigener Sache, gestärkt und genährt von den Flammen der Apokalypse“. Darf man Ihnen Alarmismus vorwerfen?
Wallnöfer
Das können Sie mir gerne vorwerfen – und dann lachen wir beide gemeinsam darüber. Das Lachen wird uns aber schnell vergehen, weil wir wissen, welche Formen der Politik jedweder ausufernde Populismus hervorbringt. Populismus ist ein schleichendes Gift, reine Politik der Destruktion. Populisten haben nie wirklich gute Vorschläge parat, sondern reden und schlagen alles kaputt. Populisten reden dem Volk angeblich nach dem Maul – oder was sie dafür halten. Dabei sind sie es, die den Menschen Worte in den Mund legen, und wir, die derlei allzu treuherzig glauben wollen.
Sebastian Kurz und die deutsche Links-Politikerin Sahra Wagenknecht bezeichnen Sie als „brave Chichi-Populisten“. Was ist dann Herbert Kickl?
Wallnöfer
Wagenknecht und Kurz, der stets geschniegelt und gestriegelt öffentlich in Erscheinung tritt, pflegen den Schein eines zivilisierten Habitus. Kickl dagegen ist ein Rüpel, der Derbes und Bös-Ordinäres verströmt. Letztlich intendieren alle drei dasselbe auf unterschiedliche Weise. Gefährlich sind sie alle.
Gibt es überhaupt einfache Mittel, die selbst ernannten Volkstribune zu enttarnen?
Wallnöfer
Wie schnarcht und furzt Donald Trump? Wie banal sind die Volksverführer hinter all dem, was sie sagen und tun? Wie übergeben sie sich, wenn sie im Bierzelt zu tief ins Glas geschaut haben? Ist ihre Unterwäsche frisch? Das sollten und müssen wir uns immer fragen, um selbst ernannte Volkskanzler zu demaskieren. Die Kaiser waren schon immer nackt!