Ist das Wiener Volkstheater noch zu retten?
Das Volkstheater ist das Schneewittchen unter den Wiener Großbühnen. Während seine Schwestern, die ungleich noblere Burg (Subvention: 47,3 Millionen Euro) und die distinguierte Josefstadt (bisher 14,17 Mio. Euro, in den kommenden drei Jahren um jeweils 548.333 Euro mehr), sich schöne Kleider leisten können, wirkt das Volkstheater mit seinen 12,4 Mio. Euro Förderung immer ein wenig ärmlich.
Sicher, die Burg muss mit dem Akademietheater um einiges mehr stemmen, und die Josefstadt hat ein treues Abo-Publikum (Auslastung: 88 Prozent). Trotzdem kann das Volkstheater, das lediglich zu 56 Prozent ausgelastet ist, nur bedingt etwas dafür, dass es so schlecht dasteht. Die Subventionsgeber hatten stets gehofft, ein Intendanten-Prinz werde das heruntergekommene Haus schon wachküssen. Aber Märchen finden eben nur auf der Bühne statt.
„Warum soll ich das Volkstheater besuchen?"
„Man möchte auch niemanden küssen, der seit Jahren nicht mehr beim Zahnarzt war“, bringt es der Basler Theaterchef Andreas Beck, 53, langjähriger Leiter des Wiener Schauspielhauses und designierter Nachfolger Martin Kušejs am Münchner Residenztheater, auf den Punkt: „Da können die Menschen auf der Bühne noch so viel Liebe hineinpumpen, wenn ich als zahlender Zuschauer den Verfall des Hauses sehe, weiß ich nicht, warum ich dieses Theater besuchen soll. Die Renovierung wurde viel zu lange hinausgezögert.“
Fast wäre das Volkstheater ein Sanierungsfall geworden. Schon während der Amtszeit von Michael Schottenberg (2005–2015) wurde festgehalten, dass eine Instandsetzung der maroden Bausubstanz bitter nötig wäre. Erst der neuen Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler ist es gemeinsam mit Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) gelungen, diesbezüglich für Planungssicherheit zu sorgen. Andere Baustellen aber bleiben. Das Volkstheater ist ein gigantischer Kasten: Nach dem Einbau einer Tribüne 2015 sollten noch immer täglich 850 Plätze gefüllt werden. Zudem hat die Institution mit ihren niederschwelligen Filialen, „Volkstheater in den Bezirken“ genannt, die ästhetisch ganz andere Zugänge fordern, einen Klotz am Bein. Wenn nun die Nachfolge der 2020 nach nur einer Amtszeit abtretenden Direktorin Anna Badora gesucht wird: Traumjobs sehen anders aus.
Volkstheater lässt keinen kalt
„Das Volkstheater braucht Enthusiastinnen und Enthusiasten“, betont die Stadträtin (siehe Interview). Ab Herbst 2020 soll eine Führungsperson am Ruder sein, die den Mut und die Energie hat, das Haus wieder nach vorn zu spielen. Kaup-Hasler hat der Stadt einen Nachdenkprozess verpasst: Jeden Morgen ab acht Uhr früh steht sie im Café Eiles für Gespräche in Sachen Volkstheater zur Verfügung – man muss sich nur vorher einen Termin geben lassen. „Die Menschen haben große Sehnsucht nach Wildheit. Alle verbinden mit diesem Theater ein anarchisches Gefühl“, fasst sie ihre bisherigen Erfahrungen zusammen. Gewohnt zupackend hat sie sich einen ambitionierten Zeitplan gesetzt: Kommenden März soll die neue Leitungsfigur präsentiert werden.
So ungeliebt das Volkstheater manchmal scheint, seine Zukunft lässt doch keinen kalt. In der Szene wird darüber heftig diskutiert. Die einen fordern, das Volkstheater müsse wie bisher ein Ensembletheater bleiben, mit fest angestellten Schauspielkräften, die für die Stadt im Repertoirebetrieb arbeiten, also jeden Abend eine andere Vorstellung bieten. Die anderen befürworten eine Öffnung in Richtung Koproduktionshaus – ein Prinzip, das man aus der freien Szene kennt: Mehrere Partner tun sich finanziell zusammen, um eine Produktion zu ermöglichen, die eine Zeit lang im Haus gespielt wird und dann zu touren beginnt.
„Natürlich braucht das Volkstheater ein Ensemble, natürlich braucht es ein Repertoire. Wer das abschafft, dürfte sich rühmen, dieses Schauspielhaus nach 130 Jahren vernichtet zu haben“, wirft Roland Koberg, 51, leitender Dramaturg an Anna Badoras Volkstheater, in die Diskussion: „Wien hat drei Häuser dieser Größenordnung, weniger wäre arm. Aus Theatern, deren Ensemblestrukturen einmal aufgelöst sind, werden auch keine mehr, siehe Berlin nach der Wende, siehe Volksbühnen-Desaster.“
Eine Frage des Geldes
Das Argument sticht: Nachdem der belgische Kunstkurator Chris Dercon an der Berliner Volksbühne verbrannte Erde zurückgelassen hat, ist unsicher, wie es weitergehen soll. Geschlossene oder heruntergewirtschaftete Theater schaffen es selten, sich wieder hochzufahren. Für Koberg garantieren Ensembles eine Verbindlichkeit mit dem Publikum und der Stadt: „Sich ihrer zu entledigen, auch nur teilweise, und etwa durchreisenden Gruppen den Vorrang zu geben, schwächt den Widerspruchsgeist, der von den Theaterleuten ausgeht. Theater ist Argument, ist Konflikt, und das geht am besten, wenn beide Seiten immer wiederkommen.“
Ein Haus mit so vielen Plätzen zu bespielen, kostet Geld. „Wenn ich eine Yacht habe, kann ich doch auch nicht sagen, die darf nicht mehr verbrauchen als ein Motorboot“, analysiert Intendant Beck die verfahrene Situation. Doch die Ensembles sind in den letzten Jahren an allen Theatern geschrumpft. An vielen Häusern haben sich Mischformen entwickelt, nicht nur aus finanzieller Not, oft auch aus Lust, sich gegenüber neuen, performativen Formaten zu öffnen.
Matthias Lilienthal, 58, versucht mit eher durchwachsenem Erfolg, die Off-Szene in die Münchner Kammerspiele einzubinden. Und der freie Schweizer Dokumentartheatermacher Milo Rau, 41, laboriert ab dieser Spielzeit im belgischen Gent am „Stadttheater der Zukunft“, wie er nicht gerade bescheiden behauptet. Mit einem Zehn-Punkte-Plan – Laiendarsteller, mehrere Sprachen, kein Nachspielen von Klassikern – möchte er das Theater zeitgenössischer und für junges Publikum attraktiver machen. Ein Experiment, das auch im deutschsprachigen Raum neugierig macht, als Vorbild aber leider nur bedingt funktioniert. Ob die hochtrabenden Pläne aufgegangen sind, wird man erst in einigen Jahren beurteilen können.
Maria Happel: „Ich weiß, was die Bühne braucht“
Künstlerpersönlichkeiten als Intendanten werden in Wien vom Publikum traditionell gut angenommen. Josefstadt-Chef Herbert Föttinger ist Schauspieler und Regisseur, ebenso Volksopern-Leiter Robert Meyer. Diesen Bonus versucht auch Publikumsliebling Maria Happel auszuspielen, die sich fürs Volkstheater bewerben möchte. „Das Publikum geht in dieser Stadt nach wie vor wegen des Schauspiels ins Theater“, sagt sie. „Ich wäre eine spielende Prinzipalin, nicht jemand, der von außen kommt. Ich weiß, was die Bühne braucht.“ Auch das deutsche Regie-Wunderkind Ersan Mondtag hat schon mehrfach betont, dass es gern ein eigenes Haus führen würde. Aber wäre es schlau, ein Theater dieser Größe an jemanden zu vergeben, der an keinem kleineren Haus Leitungserfahrung gesammelt hat? Und wäre Happel nicht auch eine würdige Nachfolgerin Meyers, der schon seit 2007 Volksopern-Chef ist?
Matthias Lilienthal, der an Frank Castorfs Volksbühne als Chefdramaturg und stellvertretender Intendant aktiv war und das Berliner HAU zu einem prägenden Koproduktionshaus machte, wird ebenfalls als Kandidat gehandelt. Er sieht die Frage, in welche Richtung es gehen könnte, pragmatisch. „Das Volkstheater ist mit einem Ensemble- und Repertoiretheater ideal bespielt, und deswegen sollte sich die Stadt Wien zu einer dementsprechenden Finanzierung entschließen. Im Notfall muss man sich andere Modelle überlegen.“ Ein möglicher Vorschlag: „Dass man sich an dem Modell von Mortier an der Brüsseler Oper orientiert. Man hat acht große Produktionen, die haben je ein Stück-Ensemble, und schafft ein Umfeld von einem Team, das halb fest engagiert ist.“
Die Zeit der Prinzen ist vorbei
Lilienthal fühlt sich vom Wiener Volkstheater an die Berliner Volksbühne erinnert, nicht nur, was die Zahl der Sitzplätze betrifft: Beide Häuser wurden vor rund 100 Jahren gegründet – mit der Aufgabe der Arbeiterbildung und eines Kunstangebots zu günstigen Eintrittspreisen. Er fände das Volkstheater als Gegenpol zum Burgtheater spannend. „Gerade weil es mit der Sozialdemokratie in Mitteleuropa nicht so gut aussieht, sind solche widerständigen Orte wichtig. Ich glaube, es ist auch heute möglich, ein Team an Leuten zu finden, die zu einer ähnlich kräftigen, polemischen Behauptung finden wie damals an der Volksbühne.“
Aber lassen sich Erfolgsmodelle wiederholen? Mit dem Koproduktionshaus brut und dem Tanzquartier hat Wien bereits zwei Häuser, die performative Formate abdecken. Christophe Slagmuylder, der neue Leiter der Wiener Festwochen, denkt in eine ähnliche Richtung. „Ein Koproduktionshaus ist kein Offenbarungseid, sondern das Eingeständnis, keine ausreichenden Mittel und Möglichkeiten zu haben, um allein etwas herzustellen“, formuliert es Intendant Beck angriffslustig: „Es ist jedenfalls kein Konzept, das nur von Erfolgen gekrönt ist. Es reisen auch schlechte Produktionen durch die Welt, die keiner braucht.“
Kaup-Hasler steht vor einer schwierigen Aufgabe. Aber zumindest legt sie die Widersprüche und Herausforderungen auf den Tisch, geht diesen nicht wie ihr Vorgänger Andreas Mailath-Pokorny großräumig aus dem Weg. Mögen Enthusiasten neue Konzepte entwickeln, die überzeugen. Die Zeit der Prinzen ist jedenfalls vorbei.