Frühlingsgefühle? Bitte nicht. Die Welt da draußen mag noch so zart und zauberhaft aus ihrem langen Dämmerzustand erwachen, Aufbrüche, womöglich sogar amouröser Natur, in Aussicht stellen – der Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin Saya Gray könnte all das kaum weniger bedeuten. Das stellt sie schon im Auftakt ihres soeben erschienenen Albums „Saya“ klar: „This is why I don’t fall in love in springtime“, raunt sie mit müder Gewissheit – unzureichend verwischt sind noch die Spuren, die zu einem gebrochenen Herzen führen: „You woke up / Iwatched the seasons change“.
Mit ihrem Debütalbum – ihre bisherigen Songkollektionen wollte sie noch nicht so nennen – beansprucht Gray also eine Bastion jeder Musikerinnenkarriere für sich: die Trennungsplatte. Nach der „Auflösung einer problematischen Liebesbeziehung“ begab sich die Kanadierin dafür allein auf einen Roadtrip durch Japan, das Heimatland ihrer Mutter, die Gitarre auf dem Beifahrersitz des Autos – jederzeit bereit, bei akutem Inspirationsschub loszulegen. Ein Konzept, das gezielt an ihre große Landsfrau Joni Mitchell und deren Meisterwerk „Hejira“ anknüpft.
Der Geist traditioneller amerikanischer Musikästhetiken von Country bis Bluegrass weht spürbar durch „Saya“, manifestiert sich in Pedal-Steel- und Harfenklängen, die sich mit den Folkgitarren mischen, die man bereits von Grays „19 Masters“ und dem folgenden EP-Duo „Qwerty“ und „Qwerty II“ kennt.
Auf jenen charmant irrlichternden Veröffentlichungen schraubte sie zwischen 2022 und 2024 mit viel Experimentierwillen scheinbar disparate Stilelemente – Alt-R’n’B und glitchy Electronica, entrückte Bedroom-Balladen-Betörung und überzuckerten Hyper-Pop – so kühn ineinander, als sei sie die Vorbotin einer Klangzukunft, die sich vorsorglich selbst die Tür zu unserer Welt aufgestoßen hat.
Samtweicher Ingrimm
„Saya“ markiert nun den Versuch, dieses avantgardistische Morgen in einen konkreteren Pop-Entwurf für die Gegenwart zu überführen: „Line Back 22“ lässt einen samtweichen Soul-Schleicher unvermittelt auf wuchtige perkussive Rüttelschwellen zusteuern, die herausragende Billie-Eilish-Reminiszenz „H.B.W“ begegnet dem heartbreak wake des Titels mit delikatem Gitarrenpicking, nachtschweren Trip-Hop-Beats und verhuschtem Vortrag. Andernorts verquirlt Gray R’n’B derart schmackhaft mit Country, dass auch der darbende Beyhive (wie Beyoncés Fans genannt werden) mit der Zunge schnalzen dürfte – „Shell (of a Man)“ ist der Song überschrieben, und Saya schickt der leeren Männerhülle einiges an Ingrimm hinterher: „If you don’t like me now / You’re gonna hate me later“.
Meisterin des stilistischen Hakenschlags: Saya Gray
Die 29-Jährige versteht sich aufs Hakenschlagen ebenso gut wie auf das Schreiben denkwürdiger Passagen. So erreicht dieser lustvoll verwehte, auf Drive und Dynamik bedachte Clash der musikalischen Temperamente eine starke Eingängigkeit – und eine Atmosphäre, die viel aufheiternder wirkt, als das bei Zusendungen an den Liebeskummerkasten üblicherweise der Fall ist. Gray trotzt der Bitterkeit des Herzens, fasst ihre Verlorenheit weniger in die düsteren Schattierungen ihres Nachnamens als in leuchtende Farben – die des Frühlings und seiner Gefühle, möchte man keck anmerken.