Wahn im Korb: Der neue „Joker“-Film als Gaga-Tristesse-Musical
Sie liebt es, als Alien mit gebleichten Augenbrauen, außerirdisch kostümiert vor Film- und Fotokameras zu stehen. Künstlichkeit ist ihr zweiter Vorname. Das Artifizielle als künstlerisches Werkzeug habe sie stets fasziniert, sagte Lady Gaga vor wenigen Wochen in einem Interview mit der „Vogue“. Aber ihr Selbstverständnis als Künstlerin sei inzwischen viel stärker geworden: Es sei schlicht zu kompliziert, das Ich in zwei Teile zu teilen, „sich dauernd aus- und wieder anknipsen“ zu müssen.
Seit 16 Jahren produziert sie massentauglichen synthetischen Pop, schon ihr programmatisch betiteltes Debüt „The Fame“ (2008) warf drei Millionenhits („Just Dance“, „Poker Face“ und „Paparazzi“) ab. Die New Yorker Musikerin und Schauspielerin Lady Gaga, 38, geborene Stefani Germanotta, genießt seither als Pop-Superstar weltweite Geltung, aber sie singt nicht nur auf Konzertbühnen, sondern gern auch dort, wo es um eine andere Art der Haltung geht. Im Jänner 2021 beispielsweise schmetterte sie – einen goldfarbenen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen als Riesenbrosche direkt über ihrem Herzen angebracht – die Nationalhymne der Vereinigten Staaten, als der Demokrat Joseph Robinette Biden seinen präsidialen Dienst antrat.
Nun singt sie auch, erneut, im Kino, wo sie als Nebenerwerbsdarstellerin, die sich tatsächlich nur alle paar Jahre auf der Leinwand blicken lässt, mit wenigen Filmen erstaunliche Wirkung entfaltete: Bradley Coopers Filmmusical „A Star is Born“ (2018), Gagas Hauptrollen-Kinodebüt (nach der akklamierten Miniserie „American Horror Story: Hotel“, 2015), wurde nicht nur ein Kassenerfolg, es ließ die Künstlerin 2019 auch zur ersten Frau in der Geschichte der angloamerikanischen Populärkultur werden, die einen Oscar, einen Golden Globe, einen Grammy und eine Auszeichnung der Britischen Film- und Fernsehakademie (BAFTA) in ein und demselben Jahr errang. 2021 spielte Lady Gaga in Ridley Scotts Fashion-Farce „House of Gucci“ eine zur Mörderin werdende Gesellschaftsdame nach realem Vorbild.
Gesang und Gewalt
Bei Musik und Verbrechen ist sie geblieben: Auch in ihrem jüngsten Kinoausflug, der die Rückkehr einer schwer verstörten Filmfigur namens Joker markiert, schraubt sie Gesang und Gewalt fugenlos ineinander. „Joker: Folie à deux“ setzt die Erzählung vom erfolglosen, gemobbten und missbrauchten Stand-up-Comedian, der auf diese Demütigungen auf seine Weise reagiert, fort. Der erste „Joker“-Thriller, ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele in Venedig 2019, hat in Joaquin Phoenix einen idealen Titelhelden gefunden. Über eine Milliarde Dollar spielte das Werk bei einem Budget von lediglich 60 Millionen Dollar global ein: Rekord für einen mit R-Rating bestempelten Film, der unter 17-Jährige nur in Begleitung erwachsener Bezugspersonen im Kino zuließ.
„Folie à deux“ ist nun aber ein Sequel nur im allerelementarsten Sinne; denn stilistisch ist das zweite Joker-Epos meilenweit von dem Vorgängerfilm entfernt. Regisseur Todd Phillips, der seinen sinistren Protagonisten „den Tunnel am Ende des Lichts“ nennt, hat diese neue Produktion viel weniger spektakulär, als bewusst gedämpfte Mischung aus Gefängnisfilm, Gerichtssaaldrama und Crime-Musical angelegt.