MUSIKERIN SMITH, AUTOR MANKELL: 2011 in Stockholm bei einer Musikpreis-Verleihung

Wandern mit Wallander

PATTI SMITH erinnert sich an Henning Mankell.

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Vor einem Jahr starb der schwedische Krimiautor Henning Mankell. Rock-Legende Patti Smith erinnert sich an ihn - und seinen unnachahmlichen Ermittler. (Das Copyright an diesem auf Deutsch bislang unveröffentlichten, profil exklusiv überlassenen Text liegt bei Patti Smith. Am 5. Oktober 2015 starb Henning Mankell 67-jährig in Göteborg. Der kürzlich bei Zsolnay erschienene Roman "Die schwedischen Gummistiefel" ist das literarische Vermächtnis des Autors.)

Ich reiste allein, immer weiter, trieb dahin. Ich bestieg Züge nach Wien, verlor mich unter den Phantomen großer Geister, weiter nach Prag, um in einem edlen kleinen Opernhaus zu sitzen, betört von einer überholten Produktion der "Tosca". In einem Berliner Bahnhof schließlich suchte ich verzweifelt etwas zu lesen. In einer Buchhandlung fand ich ein paar vereinzelte Bände auf Englisch. Ich las die jeweils ersten paar Zeilen, aber deren Verführungskraft schlug fehl. Dann fiel mir "Mörder ohne Gesicht" in die Hände, ein Werk, das 1992 den ersten, heute bedeutenden Skandinavischen Krimipreis gewonnen hatte.

Es beginnt mit diesen Worten: "Etwas hat er vergessen." Damit zieht es einen unmittelbar in diese Psyche, die da versucht, eine greifbare Erinnerung aus der Düsternis zu holen. Fasziniert landete ich in einem Café am Zoo, wo ich stundenlag las, eingehüllt in die Atmosphäre der kahlen, vernebelten Küste Südschwedens. So entdeckte ich Henning Mankells ruhelosen und intuitiv agierenden Polizeikommissar Kurt Wallander. Ich war auf der Stelle süchtig, vertiefte mich in seine zwanghaften Denkprozesse, seinen beschissenen Kaffee und den klassischen Soundtrack seines Lebens -"La Traviata","Fidelio", die Arien Verdis, Rossinis und Mozarts. Das ist seine Playlist, mit ihr kommt er durch die Nacht.

Wallender leidet an Schlaflosigkeit, nur zur Stimme von Maria Callas nickt er gnädigerweise ein. Ein Anruf vor Sonnenaufgang beendet seine Träume, es gebe scheußliche Neuigkeiten in Ystad. In einer abgelegenen Farm in der Provinz Skåne hat man Johannes Lövgren zu Tode gefoltert, seine Frau Maria brutal misshandelt und sterbend liegengelassen, mit einer Schlinge um den Hals. Die Barbarei definiert die Tat neu, als wäre sie nicht mehr ein Verbrechen, sondern ein abscheulicher Akt des Wahnsinns, der kaum zu kontrollieren ist und grauenhafte Vorahnungen auslöst. Hier treffen wir Kurt Wallander, mitten im turbulenten Zentrum seiner Karriere. Er lebt entfremdet von Ehefrau und Tochter, sein guter Freund und Mentor Rydberg kämpft gegen Krebs im Endstadium. Kurts Vater ist an Alzheimer erkrankt. Wallanders Zeit ist, obwohl dieser Roman 1991 entstanden ist, unsere Gegenwart. Er wird von jenen Fragen heimgesucht, die wir alle uns täglich zu stellen gezwungen sehen. Warum diese Brutalität? Wallander bemüht sich, die wachsende moralische Zersetzung kurz vor dem neuen Jahrtausend zu begreifen. Eine neue Ära kommt, die neue Strategien braucht und vielleicht auch eine andere Art von Polizei.

Wallander gibt sich mit der bloßen Wahrheit nicht zufrieden, er will Gerechtigkeit.

Wallander ist ein guter Kommissar in einer schlechten Welt. Wie besessen durchkämmt er jeden Anhaltspunkt, während er kannenweise mit verbranntem Kaffee, den er später mit Whisky dämpft, seinen Schlaf stört. Familienpflichten, persönliche Ängste, sogar physisches Begehren hält er hintan; alles tritt in den Hintergrund zugunsten der Jagd nach Gerechtigkeit für die Opfer. Wallanders einziger Luxus scheinen die teuren Lautsprecher in seinem verbeulten Wagen zu sein. Begleitet von Verdis "Requiem" grübelt er über seine Ermittlungen nach, beschwört Verdächtige herauf und sucht lose Enden nach einer Spur ab.

So etwas wie das Gesicht eines Mörders gebe es nicht, sagt Rydberg.

Kein besonderes Profil; nichts, worauf man zählen könnte. Ohne Verdächtige im Spiel konzentriert man sich auf den Kommissar: ein gefinkelter Kunstgriff. Wir lernen Wallanders Methoden kennen, seine Belastungen und Geistesblitze. Die Mörder sind tatsächlich gesichtslos. Es gibt nur eine einzige kleine Spur - das Wort "Ausländer", formuliert von einer Sterbenden. Es öffnet eine Büchse der Pandora - Rassismus und Misstrauen beginnen das soziale Gewebe zu durchdringen. Wallander entwirrt Hinweise, bewegt sich vor und zurück, besucht Flüchtlingslager, deckt Verunsicherung und Verwahrlosung auf. Die Gräueltaten zielen auf Minderheiten, Frauen und Kinder. Nationalismus liegt in der Luft. Dies ist kein Krimi im üblichen Sinn, vielmehr eine ernsthafte, triste Auseinandersetzung mit der kulturellen Verschiebung, die uns derzeit beschäftigt.

Wallanders Team sieht sich mit der entmutigenden Aufgabe konfrontiert, die identifizierten Täter im Menschenchaos aufzuspüren. Rydberg erinnert den niedergeschlagenen Freund daran, dass die Wahrheit bisweilen der einzige Lohn für eine Ermittlung sei. Aber Wallander gibt sich mit der bloßen Wahrheit nicht zufrieden, er will Gerechtigkeit. Stur kämpft er um sie, er späht, täuscht und beseelt. Verpflichtet, dem Volk zu dienen und es zu schützen, sieht er sich dazu verurteilt, alles zu opfern, um den Killer zu kriegen.

Derselbe vibrierende Faden, der mich mit Wallander verband, ließ Henning und mich zu Freunden werden.

Ich dachte, Kurt Wallander werde für immer weitermachen. Als ich das Buch beendet hatte, fühlte ich mich dem zum Alkoholismus neigenden, melancholischen Kommissar nahe. Wir teilten die Liebe zu Callas, den Hang zum Einschlafen in voller Kleidung, wir neigten beide dazu, aufs Essen zu vergessen und trostlos durch den Nebel zu streunen, der einen vom Meer her erreicht. Als ich "Mörder ohne Gesicht" damals in Berlin in die Hand genommen hatte, hätte ich nie erwartet, dass ich mich zu Wallander derart hingezogen fühlen und eines Tages sogar seinen Schöpfer, Henning Mankell, treffen würde.

Derselbe vibrierende Faden, der mich mit Wallander verband, ließ Henning und mich zu Freunden werden. Wir waren einander fern, mussten darauf vertrauen, dass unsere Verbindung existierte. Wir aßen zusammen, ich sah den Tisch, an dem er schrieb. Ich sang für ihn und seine Frau, und er sprach für mich. Wir scherzten über unsere alternativen öffentlichen Identitäten: der Pate des schwedischen Kriminalromans und die Patin des Punk. Wir unterhielten uns über Frauenrechte, die Verantwortung des Künstlers, verglichen die innere Erzählung einer Puccini-Arie mit der einer kriminalpolizeilichen Untersuchung. Ich dachte, Henning würde als mein Freund immer auf der Erde bleiben, er war kaum jünger als ich, also warum nicht? Aber wir haben ihn verloren, genau wie Wallander Rydberg verlieren musste.

Dennoch sehe ich Henning vor mir, nur eine Armlänge entfernt; seinen schlurfenden Gang, seinen schwarzen Mantel, sein etwas widerspenstiges weißes Haar und seine alerten Augen, in denen die Sorge um die menschliche Verfassung schimmert. Als politischer, poetischer und produktiver Schriftsteller ging er über den Kriminalroman hinaus, wenn auch sein Kommissar mir stets vor Augen steht. Zu Henning und seinem Kommissar fand ich allein. Ich las "Mörder ohne Gesicht", wanderte mit Wallander. Nun, da Henning weg ist, sehe ich die beiden manchmal in Überblendung , ein Doppelwesen, dem ich mich dankbar anschließe.