War der Schriftsteller Franz Kafka als Schüler gut in Deutsch?
Von Wolfgang Paterno
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Anfang
Wo anfangen? Als Franz Kafka am 3. Juni 1924 im Lungensanatorium Hoffmann in Kierling, zwölf Kilometer donauaufwärts von Wien aus, starb, war es völlig unabsehbar, dass der Autor eines Tages zu einem der bekanntesten Dichter des 20. Jahrhunderts werden sollte. Kafka ist ein globaler Prosa-Heiliger und Schulklassiker, dessen Lebenswelt äonenweit entrückt scheint, dessen kristallines Schreiben auch Dekaden nach seinem Tod höchst lebendig wirkt.
Vielleicht einfach so beginnen: Von Kafkas 14.946 Tagen auf Erden bleibt ein merkliches Nachzittern voller Widersprüche. Kafka, der ein ausnahmslos der Dichtung gewidmetes Dasein führen wollte und seine Tage als Angestellter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt schmerzlich vertrödelte; Kafka, der Jahrhundertautor, der zu Lebzeiten nur wenige Bücher veröffentlichte, gerade sechs Stück, von denen die meisten nur eine einzige Erzählung enthielten: „Das Urteil“ (1916) mit seinen 26 Seiten wurde kaum als Buch wahrgenommen, seine drei Romane blieben Fragment.
Noch auf dem Kierlinger Krankenbett arbeitete Kafka, bei dem die Lungentuberkulose bereits auf den Kehlkopf übergegriffen hatte, was stechende Schmerzen beim Essen und Trinken verursachte, an den Korrekturen der Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Ein letzter Weg führte ihn zum Kierlinger Postamt, um das Manuskript zu versenden, gestützt von seinem Freund Robert Klopstock und seiner Geliebten Dora Diamant, entlang des Maibachs und der Pforte mit dem heute verwitterten Schild „Sanatorium Hoffmann“. „Ein Hungerkünstler“ erschien im August 1924, zwei Monate nach Kafkas Tod.
Kafka, der Modernist und Avantgardist schließlich, der testamentarisch verfügt hatte, sein literarisches Erbe zu vernichten, das gegen dessen Willen jedoch von seinem Freund Max Brod veröffentlicht wurde.
Bier
Jeder Zeit ihren Kafka. Galt jahrzehntelang die Regel vom verbitterten Eigenbrötler mit schwerer Schlagseite zu Gram und Weltschwärze, darf Kafka inzwischen als der betrachtet werden, der er tatsächlich war: Lebemann und Filou, seiner Zeit und seinen Zeitgenossen gegenüber aufgeschlossen, nicht gerade ein Mensch wie du und ich, aber doch ein Mensch. Kafka konnte bis zur Schnappatmung und Vom-Sessel-Fallen lachen; er war Witz und Schalk gegenüber aufgeschlossen, verfolgte die technischen Neuerungen seiner Epoche – Aeroplan und Automobil – aufmerksam. Und er trank Bier. Sehr gern und sehr viel. Spaziergänge und Schlaflosigkeit gingen mit reichlich Alkoholkonsum einher: „Ja, ich habe ein kleines Bier zwischen den Fingern gedreht“, berichtet er Ende Mai 1920 in einem Brief an seine Schwester Ottla.
Canetti
Karl Kraus und Kafka waren die Hausgötter des Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti (1905–1994), denen der 1938 von Wien ins britische Exil geflohene Autor gleichermaßen Vergötterung wie Verachtung entgegenbrachte. Canettis Kafka-Besessenheit liegt seit einigen Jahren gesammelt als Buch vor. In „Prozesse“ notiert Canetti: „Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk. Denn er, nur er, ist von Aufgeblasenheit frei geblieben.“ Oder: „Mit Kafka ist etwas Neues in die Welt gekommen, ein genaueres Gefühl für ihre Fragwürdigkeit, das aber nicht mit Hass, sondern mit Ehrfurcht für das Leben gepaart ist. Die Verbindung dieser beiden Gefühlshaltungen – Ehrfurcht und Fragwürdigkeit zusammen – ist einzigartig, und wenn man sie einmal erlebt hat, ist sie nicht mehr zu missen.“ Schließlich: „Rette mich, Kafka. Willst du mich nicht retten, verachtest du mein Gewicht, meine Wollust, meinen Bauch? – Wo sind deine Werke, hör ich dich sagen. Ach, nirgends, nirgends.“ Ein Literaturtraumpaar: hier der hagere Dichter K. im Dauerzweifel, dort der feiste Lebemann C., berauscht von der eigenen Bedeutung.
Deutschnote
Kafkas Deutschnote im „Maturitäts-Zeugnis“ von 1901, Prager Altstädter Gymnasium: „befriedigend“.
Erscheinung
Als Franz Kafka 1907 den Betriebsarzt der Versicherungsgesellschaft „Assicurazioni Generali“ aufsuchte, in deren Prager Dependance er von Oktober 1907 bis Juli 1908 beschäftigt war, notierte Dr. Wilhelm Pollack: Gewicht – 61 Kilogramm; Größe – 1,82 Meter. Laut Befund war Kafkas Konstitution schwach und zart, aber alles in allem war er bei guter Gesundheit und von leptosomer Gestalt. Im Tagebuch hält Kafka an einer Stelle fest, dass er mit der Pflege seiner Haare „Nachmittage“ verbringen könne. „Dunkelblaugrau“, so registriert der Reisepass Kafkas Augenfarbe. Peter Handke, prominentes Mitglied im sektenhaften Kafka-Fanclub, schreibt, er habe das Gesamtwerk des Autors nur deshalb nochmals gelesen, um herauszufinden, ob der Prager an Pickeln gelitten habe. In seinem letzten Brief will Kafka seine Eltern davon abhalten, ihn in Kierling zu besuchen. Er sei, schreibt er Hermann und Julie, „noch immer nicht sehr schön, gar nicht sehenswert“.
Fisch
Kafkas Vater Hermann wird als Schrank von Mann beschrieben, als ein Mensch mit raubtierhaften Zügen, als Donnerer und Schweinsbraten-Fresser. Franz neben Hermann, das sieht ein bisschen so aus, als stünde Jahrmarkt-Muskelmensch neben Strichmännchen. Sohn Franz ging, wie immer, am Schreibtisch in Gegenwehr: 1919 entstand der „Brief an den Vater“ mit dem berühmten Satz, der die ungestüme, letztlich leere Drohung Hermanns dokumentiert: „Ich zerreiße Dich wie einen Fisch!“ Vom Zerreißen und Zerrissenwerden. Zerreißproben mit der Welt und dem Vater, so oder so. Der Adressat hat den über 100 handschriftliche Seiten umfassenden „Brief an den Vater“ nie gelesen.
Goltz
Das Kafka-Image als weltberühmter Prosa-Dunkelmann wurde auch durch Anekdoten folgenden Zuschnitts geprägt: Außerhalb von Prag las Kafka nur ein Mal aus eigenen Werken – ein nicht gerade triumphaler Abend, der dennoch am Autor als Verkünder dunkler Gewissheiten hartnäckig kleben blieb. Welcher Art waren nun die vermeintlich dramatischen Ereignisse in der Münchner Buchhandlung „Goltz“ am 10. November 1916 um 20 Uhr? Einige Besucher verließen die Lesung vorzeitig, was bald als schlüssiger Beleg für Kafkas angeblich unheimliche Aura in die Welt hinausgetragen wurde.
Hilfe!
Seine Reisen führten Kafka durch die Länder Mitteleuropas; er erkundete Metropolen und Regionen: Berlin, Budapest, Dresden, Karlsbad, Leipzig, Lugano, Mailand, München, Paris, Pilsen, Triest, Venedig, Weimar, Wien, Zürich. In Bregenz am Bodensee war er nachweislich nie. Ende August 1911 passierte er die Stadt auf der Bahnfahrt nach Paris; fünf Jahre darauf taucht „Bregenz“ überraschenderweise im Tagebuch auf: „Einer lag schwer krank im Bett. Der Arzt saß beim Tischchen, das an das Bett geschoben war, und beobachtete den Kranken, der wiederum ihn ansah. ‚Keine Hilfe‘, sagte der Kranke, nicht als frage, sondern als antworte er. Der Arzt öffnete ein wenig ein großes medizinisches Werk, das am Rande des Tischchens lag, sah flüchtig aus der Entfernung hinein und sagte, das Buch zuklappend: ‚Hilfe kommt aus Bregenz.‘ Und als der Kranke angestrengt die Augen zusammenzog, fügte der Arzt hinzu: ‚Bregenz in Vorarlberg.‘ ‚Das ist weit‘, sagte der Kranke.“ Eine Rätselübung, von der Stadt am Ostufer des Bodensees längst touristisch eingemeindet.
Ich
„Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ (Brief, 1913). – „Ich bin Ende oder Anfang.“ (Tagebuch, 1918) – „Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.“ (Tagebuch, 1910) – „Ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und Foltern.“ (Brief, 1920) – „Ich erschrecke, wenn ich höre, dass Du mich liebst, und wenn ich es nicht hören sollte, wollte ich sterben.“ (Brief, 1912) – „Niemand wird lesen, was ich hier schreibe.“ (Tagebuch, 1917)
Jungborn
Am 8. Juli 1912 trifft Kafka in „Rudolf Just’s Kuranstalt Jungborn“ ein. Dem anstaltseigenen Sinnspruch „Kehrt zur Natur zurück!“ fühlt sich Kafka seit Langem verbunden: Er schätzt die in Jungborn betriebene Freikörperkultur und die fleischlose Kost. Allerdings mit einer nicht zu unterschätzenden Einschränkung im Tagebuch: „Alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht.“
K.
Was Elon Musk sein X ist, war Kafka sein K. „Josef K.“ ist der Name des unschuldig Verfolgten im „Proceß“-Roman; „K.“ heißt der Protagonist in „Das Schloß“, der vorgibt, „Landvermesser“ zu sein. Seine Briefe unterschrieb Kafka gern mit „K.“ oder „Dein K.“
Linien
Kafka war ein enthusiastischer Zeichner und Kritzler. Aktuell darf sich der Wiener Illustrator Nicolas Mahler den hiermit ausgerufenen K.-Preis für das beste gezeichnete Kafka-Porträt abholen (in „Komplett Kafka“): die Haare des Dichters zwei schwarze Striche samt hingepinselter Segelohren.
Müllern
Drum müllere! Kafka war Apostel des dänischen Gymnastikers J. P. Müller, dem, wie der Autor Erich Kästner spitz anmerkte, „schönsten Mann des neuen Jahrhunderts“. Müller beteuerte in seinem weitverbreiteten Lehrbuch, dass 15 Minuten täglicher Körperarbeit wahre Gesundheitswunder bewirkten. Kafka müllerte – und fletscherte. Sein Guru in diesem Fall: Horace Fletcher, ein selbst ernannter US-Gesundheitsprediger, der das Einspeicheln und minutenlange Kauen jedes einzelnen Bissens propagierte. Vom Fletschern ließ Kafka sich nie abhalten – weder vom Vater, der sich am Essenstisch ostentativ die Zeitung vor die Nase hielt, noch in der Meraner Pension „Ottoburg“, wo sich der Autor einen Einzeltisch zuweisen ließ, um nach Herzenslust zu fletschern.
Nennwert
Kafkas Korrespondenz mit Felice Bauer erzielte im Juni 1987 bei einer Auktion von Sotheby’s New York ein Rekordergebnis: 327 mit der Hand, 15 mit der Schreibmaschine geschriebene Briefe, dazu 145 handgeschriebene und 33 getippte Postkarten, die Kafka zwischen 1912 und 1917 meist in aller Hast und Dringlichkeit mit seiner zweimaligen Verlobten ausgetauscht hatte, waren einem unbekannten Kafka-Verehrer 605.000 Dollar wert. Das Hamburger Auktionshaus Hauswedell & Nolte versteigerte 2005 eine von Kafka signierte Buchausgabe von „Der Heizer“ um 45.657,60 Euro. Das erste Kapitel des abgebrochenen Amerika-Romans „Der Verschollene“ war 1913 im Leipziger Kurt-Wolff-Verlag als Buch erschienen.
Ohropax
Kafka litt unter notorischer Geräuschempfindlichkeit. „Lärmhölle“ überall. Was also zum Leben nötig war: Ohropax, dazu die „Oliver“ der Berliner Schreibmaschinengesellschaft, Kafkas Arbeitsgerät bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag, wo er von 1908 bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung im Juli 1922 als Jurist angestellt war. Das nächtliche Schreiben schließlich mit den Soennecken-Schreibfedern.
Pflichtlektüre I
Was man von Kafka lesen soll? Kurze Antwort: Alles, was man in die Finger bekommt. Lange Antwort: Man steige mit den drei unvollendeten Romanen „Der Verschollene“, „Der Proceß“ und „Das Schloß“ in die Kafka’schen Himmel- und Höllenfahrten ein, besorge sich mindestens drei Exemplare der „Tagebücher“ zum Zerlesen und Immer-wieder-Lesen, flankiert von absichtslosem Blättern in den Briefkonvoluten. Zum Drüberstreuen: „Die Verwandlung“ mit dem Hochgeschwindigkeitseröffnungssatz „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“; dazu die Erzählungen „In der Strafkolonie“ und „Ein Bericht für eine Akademie“, in der jenes Geschöpf, das kürzlich noch ein Affe war, den Ratschlag parat hat: „An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.“
Pflichtlektüre II
Das Verwertungsmaschinchen summt und schnurrt. Umhängetaschen, Rucksäcke, Kapuzenpullover, T-Shirts, Trinkflaschen, Stiftetuis, Puppen, Babybodys, Unisex-Socken, Schreibtische, Stühle: Nicht überall, wo Kafka draufsteht, ist Kafka drin. Radio, Film, Hörbuch, Comic, Oper, Literatur, Theater und Internet – es gibt kaum eine Disziplin, die sich nicht an Leben und Werk des Pragers versucht hätte. Die Forschungsliteratur wiederum ist uferlos, der Textplanet Kafka ist einer der besterforschten Prosahimmelskörper des 20. Jahrhunderts – was angewandte Erbsenzählerei nicht ausschließt: In der Erzählung „Die Verwandlung“, rechnete unlängst eine Studie vor, komme das Wort „Tür“ 98 Mal vor. Und weiter: „Bett“ (36), „Fenster“ (26), „Tisch“ (28), „Boden“ (22), „Sessel und Kanapee“ (20), „Möbel“ (15), „Zimmer“ (134), „Wohnung“ (27). Auf dem Bücherberg der biografischen K.-Annäherungen thront der Berliner Literaturwissenschafter Reiner Stach, 73, mit absoluter Lufthoheit obenauf: Allein 18 Jahre lang saß Stach an seiner dreibändigen, zwischen 2002 und 2014 publizierten Biografie über den Prager Beamten und Feierabendschriftsteller, einem Meisterstück des Genres. Als Kür veröffentlichte Stach 2018 eine Tag-für-Tag-Kafka-Chronik und die kluge Spurensuche „Ist das Kafka?“ (2012) Ja, all das ist Kafka.
Quälgeist
Kafkas Geliebte Milena Jesenská berichtet Anfang August 1920 von einem gemeinsamen Postamtsbesuch: „Wenn er ein Telegramm stilisiert und kopfschüttelnd ein Schalterfensterchen sucht, das ihm am besten gefällt, wenn er dann, ohne im Geringsten zu begreifen, warum und weswegen, von einem Schalter zum nächsten wandert, bis er an den richtigen gerät, und wenn er zahlt und Kleingeld zurückbekommt, zählt er nach, was er erhalten hat, findet, dass man ihm eine Krone zu viel herausgegeben hat, und gibt dem Fräulein hinter dem Fenster die Krone zurück. Dann geht er langsam weg, zählt nochmals nach und auf der letzten Stiege unten sieht er nun, dass die zurückerstattete Krone ihm gehört hat. Nun, jetzt stehen Sie ratlos neben ihm, er tritt von einem Fuß auf den andern und denkt nach, was zu tun wäre. Zurückgehen, das ist schwer, oben drängt sich ein Haufen von Menschen. ‚Also lass es doch sein‘, sage ich. Er schaut mich ganz entsetzt an. Wie kann man es lassen? Nicht dass ihm um die Krone leid wäre. Aber gut ist es nicht. Da ist um eine Krone zu wenig. Wie kann man das auf sich beruhen lassen?“
Ramschware
Aktueller Preis der Kafka-„Gesamtausgabe“ im Amazon-Kindle-Shop: 0,99 Euro. Geschätzte Seitenzahl als Printausgabe: 2870.
Small Talk
Durchaus brauchbare Small-Talk-Sätze, dem K.-Kosmos entnommen, leicht adaptiert: „In Zeiten des Klimawandels braucht es kein Buch mehr, das wie die Axt für das gefrorene Meer in uns ist. Tauzeit ist!“ – „Jemand musste den Ex-Bundeskanzler K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Freitagnachmittags wegen Falschaussage zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt.“
Tiere
Der Mensch ist auch nur ein Schwein: „Tanzt ihr Schweine weiter; was habe ich damit zu tun?“, notierte Kafka Ende Mai 1914 im Tagebuch. Der Autor als Aufseher eines buchstäblichen Bestiariums: In seinen Texten tummeln sich Pferde, Frösche, Schlangen, Käfer, Leoparden, Vögel, Ratten, Hündinnen, Mäuse. In den berühmten „Aphorismen“ bellt, knurrt und tschilpt es geradezu, zum Beispiel in der Aufzeichnung vom 21. Oktober 1917: „Eine stinkende Hündin, reichliche Kindergebärerin, stellenweise schon faulend, die aber in meiner Kindheit mir alles war, die in Treue unaufhörlich mir folgt, die ich zu schlagen mich nicht überwinden kann, vor der ich aber, selbst ihren Atem scheuend, schrittweise nach rückwärts weiche und die mich doch, wenn ich mich nicht anders entscheide, in den schon sichtbaren Mauerwinkel drängen wird, um dort auf mir und mit mir gänzlich zu verwesen, bis zum Ende – ehrt es mich? – das Eiter- und Wurm-Fleisch ihrer Zunge an meiner Hand.“ Max Brod, der Erstherausgeber der „Aphorismen“, weigerte sich, diesen Text in die publizierte Auswahl aufzunehmen: St. Kafka musste stets St. Kafka bleiben, von Anfang an. Ein Evergreen, der Aphorismus vom 6. November 1917: „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“
Umwege
„Weg“ war eine Lieblingsmetapher Kafkas. Zuweilen führen auch Umwege ans Ziel. Ein Februarsamstagnachmittag in der kleinen Gedenkstätte an der Kierlinger Hauptstraße 187. Vieles in dem Haus wirkt so, als sei seit Kafkas Tod kaum Zeit vergangen: „Salve 1901“, so begrüßt ein Bodenmosaik den Besucher. Zwei Räume mit kleiner Bibliothek und Fotos, Texten und Dokumenten über Kafkas qualvolles Hinscheiden im zweiten Stockwerk. Das eigentliche Sterbezimmer gehört heute zu einer Privatwohnung; der Balkon bietet einen Blick in den Garten des ehemaligen Sanatoriums und auf den verwachsenen Wienerwald. Im Kafka-Jahr 2024 herrscht reger Betrieb im Gedenkraum. Eine Reisegruppe älterer Kafka-Fans berichtet so aufgebracht wie aufgewühlt von der Anreise auf Umwegen: Der Busfahrer der öffentlichen Verkehrsmittel habe sie in Unkenntnis des Gedenkorts etliche Fußwegmeter entfernt bei einer Tischlerei namens Kafka abgesetzt! Eine, tja, kafkaeske Angelegenheit.
Vernichtungslager
Kafkas Schwestern Gabriele, Valerie und Ottilie – Elli, Valli und Ottla genannt – wurden in Konzentrationslagern ermordet. Elli, geboren 1889, und Valli, Jahrgang 1890, vermutlich 1942 im Vernichtungslager Chelmo; Ottla, Kafkas 1892 auf die Welt gekommene Lieblingsschwester, begleitete 1943 als Pflegerin freiwillig einen Zug mit jüdischen Kindern nach Auschwitz, wo sie kurz nach ihrer Ankunft getötet wurde. Kafkas Geliebte starben ebenfalls in Konzentrationslagern. Einzig Felice Bauer gelang die Flucht nach Amerika.
Wien
Wien verabscheute Kafka. „Die Tage in Wien möchte ich aus meinem Leben am liebsten ausreißen“, schrieb er Mitte September 1913 an seinen Freund Max Brod: „Und zwar von der Wurzel aus.“ Ein halbes Jahr darauf in einem Schreiben an seine Briefpartnerin Grete Bloch das Fazit: „Wien, dieses absterbende Riesendorf.“
X-mal
Als Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt klagte Kafka in Briefen und im Tagebuch ausdauernd über seinen Büroalltag. Der am Ende zum „Obersekretär“ beförderte Jurist stand damit allerdings allein auf weiter Flur. Kafkas juristisches Talent wurde geschätzt; bei seinen Kollegen war er überaus beliebt und geachtet. Max Brod behauptete, K. sei das „Amtskind“ gewesen.
YouPorner
Kafka, der gehemmte Tiefenschürfer von Seelenzuständen und Gedankenwelten? Er konnte auch ganz anders. St. Kafka und Franz Beelzebub. Ende November 1911 berichtet er im Tagebuch von einer offenbar eindrücklichen Begegnung mit einem Linzer Sammler namens Pachinger; für Kafkas Verhältnisse grenzt der Eintrag an schiere Pornografie. Pachingers Dasein, notiert Kafka, bestehe aus „Sammeln und Koitieren“, es sei ihm, Pachinger, „auch am angenehmsten zu vögeln“. Explizit erwähnt der Dichter das „große Glied“, das der Herr aus Linz „langsam in die Frauen stopft“.
Zugrundegehen
„Kafkas letzte Wochen waren Schmerz“, notiert Biograf Reiner Stach über die Lungentuberkulose des Patienten, die das Gewebe des Kehlkopfes allmählich zersetzte. Schneidende Schmerzen, verursacht durch die geringste Bewegung des Kehlkopfs, jedes Husten eine Qual, jeder kleinste Schluck Wasser, jedes gehauchte Wort eine Tortur. „Nichts hilft, Kafka leidet Atemnot und Schmerzen“, schreibt Stach über die letzten Stunden. Eintrag im „Sterbeprotokoll-Buch“ von 1924 der Gemeinde Kierling bei Wien: „Dr. Franz Kafka. Charakter oder Beschäftigung: Schriftsteller. Alter: 3. Juli 1883. Religion: mosaisch. Stand: ledig. Geburtsort, Bezirk, Land: Prag. Todestag: 3. Juni. Todesursache: Herzlähmung.“
Quellen und weiterführende Lesetipps
Reiner Stach: Die frühen Jahre; Die Jahre der Entscheidungen; Die Jahre der Erkenntnis; Kafka von Tag zu Tag; Ist das Kafka? (alle S. Fischer); Reiner Stach: „Du bist die Aufgabe“ (Wallstein); Astrid Dehe und Achim Engstler: Kafkas komische Seiten (Steidl); Nicolas Mahler: Kafka für Boshafte; Komplett Kafka (Suhrkamp); Klaus Wagenbach: Franz Kafka – Bilder aus seinem Leben; Franz Kafka – Biografie seiner Jugend (beide Wagenbach); Elias Canetti: Prozesse. Über Franz Kafka (Hanser); Hubert Spiegel (Hrsg.): Kafkas Sätze (S. Fischer); Louis Begley: Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe (DVA); Peter-André Alt: Franz Kafka – Der ewige Sohn; Andreas Kilcher (Hrsg.): Franz Kafka – Die Zeichnungen (beide C.H. Beck)
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.