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Wellenbewegung: Der Hype um Südkorea in der Kulturindustrie

Südkorea ist in Popmusik, Kino und Streaming kommerziell und künstlerisch zur Weltmacht geworden. Wie konnte es dazu kommen? Ist das schlimm? Und wird der Hype wieder enden?

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Von Stefan Niederwieser

Es ist eine Kulturindustrie ganz neuen Zuschnitts, die die Welt in diesem Jahr endgültig erreicht hat, sie ist digital und viral, zielstrebig und rasant und emotional. Südkorea hat sich als neue kulturelle Supermacht etabliert. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten; und wo Korea glänzt, da wird es manchmal auch düster.

Die Hit-Serie „Squid Game“ etwa ist bei aller dramatischen Inszenierung so vorhersehbar, dass andere Networks sie jahrelang abgelehnt hatten. Koreanische Drama-Serien transportieren ein Frauenbild, das so reaktionär ist wie der Stellenwert von Frauen in der südkoreanischen Gesellschaft insgesamt. Popmusik wird in dem Land in einem erbarmungslosen System mit derartigem Drill produziert, dass jedes Jahr Hunderte Teenager daran zerbrechen. Und die koreanische Fankultur ist in ihrer aktuellen Form derart toxisch, dass sie etwa in China inzwischen einer strengen Zensur unterliegt.

Theodor Adorno hätte seine helle Freude daran gehabt, diese Form der Kulturindustrie kritisch auseinanderzunehmen. Aber wie erklärt sich ihr globaler Erfolg? „Squid Game“ entwickelte sich in diesem Jahr zur mit sehr großem Abstand erfolgreichsten Netflix-Serie und bescherte einer Weltbevölkerung im soften Lockdown einen raren gemeinsamen Moment. Über 140 Millionen Zuseher sollen es innerhalb von vier Wochen gewesen sein.

Immer wieder fanden sich auf Netflix unter den meistgestreamten Serien auch andere sogenannte K-Dramas, also koreanische Serien. Die Gesellschaftssatire „Parasite“ gewann vergangenes Jahr als erster fremdsprachiger Film überhaupt den Oscar für den besten Film. Die Seouler Boyband BTS ist Dauergast an der Spitze der US-Charts und globaler Streaming-Rekordhalter. Zudem erreichen koreanische E-Sports-Veranstaltungen Einschaltquoten, von denen andere Sportarten nur träumen können. Südkorea war mit seinen Tausenden Internetcafés ein Wegbereiter für professionelles Gaming. Heute erzielen vor allem mobile Spiele aus dem Land einen Umsatz von 5,6 Milliarden Euro, was nur noch von China, den USA und Japan übertroffen wird.

Die Welt erlebt eine Welle, auch K-Wave oder Hallyu genannt. Im asiatischen Raum breitet sich diese Welle schon länger aus. Erstmals wurde der Begriff 1997 verwendet, als koreanische Fernsehserien den chinesischen Markt erreichten. Spätestens mit dem Lied „Gangnam Style“ von Psy hat auch der Rest der Welt gemerkt, dass sich auf der Halbinsel etwas zusammenbraut. Der ironische Song über den Glitzer in dem trendigen Seouler Viertel Gangnam wurde 2012 zum ersten YouTube-Video, das über eine Milliarde Klicks erreichte. Zu seiner Geschichte gehören Zutaten, die K-Pop seither auf der Erfolgsspur halten, darunter virale Verbreitung – damals noch via Twitter – und eine eingängige Tanzchoreografie.

Der südkoreanische Pate dieser Welle, der 69-jährige Lee Soo-man, sprach vor zehn Jahren in einer Rede an der Universität Stanford von der Kulturtechnologie, die er und sein Team entwickelt hatten, um Musik im großen Stil nach ganz Asien zu exportieren. Zu den vier zentralen Säulen dieser Technik gehören Casting, Training, Produktion und Marketing. Stromlinienförmige Abläufe dieser Art hatten schon in den 1960er-Jahren den Brill-Building-Pop, das Detroiter Label Motown und später die Boybands der 1990er-Jahre erfolgreich gemacht.

In Südkorea greifen die Arbeitsschritte perfekt ineinander. Um besser auf die Nachfrage im Ausland reagieren zu können, ist man schon vor Jahren dazu übergegangen, Sängerinnen oder Sänger für bestimmte Zielmärkte gezielt in erfolgversprechende Bands zu integrieren. Lalisa Manobal wurde etwa daheim in Thailand bei einem Casting entdeckt. Vier Jahre lang war sie Trainee, erst danach wurde sie als Teil der Girlgroup Blackpink der Öffentlichkeit vorgestellt.

Dieses Modell spuckt Talente aus wie kein zweiter Markt, erklärte der Musikmanager Bernie Cho in einem Podcast: Effizienz ist das zentrale Gebot. Viele koreanische Musikkonzerne notieren an der Börse und müssen ihre Anleger mit Rendite bei Laune halten. Das Unternehmen von Lee Soo-man etwa setzt rund eine halbe Milliarde Euro jährlich um; zwei weitere koreanische Entertainment-Firmen erzielen jeweils weit über 100 Millionen Euro Umsatz. Sie investieren in neue Technologien und halten Anteile an Streaming-Plattformen und TechStart-ups.

Die hybriden Unternehmen werden häufig von ehemaligen Künstlern geleitet. All das führe dazu, so Bernie Cho, dass es in Südkorea keinen klaren Unterschied mehr gibt zwischen Jugendkultur, Pop- und digitaler Kultur. Sie sind ein und dasselbe. Wenn Fans ihre Favoriten auf allen Plattformen in die Charts katapultieren, wenn sie auf TikTok zu ihrer Musik mittanzen, wenn sie Untertitel für ein neues Video anfertigen, dann sind das heute selbstverständliche Bestandteile dieser globalisierten Kultur.

Die Welle wird in Korea gemacht, aber längst nicht mehr nur für Korea. Der Großteil der Klicks kommt aus Übersee, aus den USA, Kanada, Indonesien, Indien, Japan oder den Philippinen. Auch die klassische Popwelt hat den Braten inzwischen gerochen. Kollaborationen mit Ed Sheeran, Coldplay, Cardi B oder Lady Gaga sind entstanden. Dabei ist relativ egal, woher die Klicks stammen. Es braucht nur eine Menge davon.

Hier kommt Korea wiederum seine Geografie und seine Geschichte zugute. Korea befindet sich am Rand des sogenannten Valeriepieris-Kreises. Wenn man auf einem Globus von Myanmar aus einen Kreis von rund 4000 Kilometern zeichnet, dann leben innerhalb dieses Kreises mehr Menschen als außerhalb. Korea liegt mitten in einem riesigen Markt von teils hoch entwickelten Staaten. Zugleich wird es – im Unterschied etwa zu Japan oder auch China – im asiatischen Raum nicht als Bedrohung wahrgenommen. Zudem sehnen sich in diesen Ländern die vielen jungen Menschen nach dem Wohlstand und der Coolness, die in der koreanischen Welle gefeiert werden.

Seit 2016 beschleunigt sich die Entwicklung noch weiter. China brach damals quasi über Nacht als Absatzmarkt weg, nachdem die USA ein Raketenabwehrsystem in Südkorea stationiert hatten. Als Reaktion zensierte China viele koreanische Produkte für mehrere Monate. In Korea war man gezwungen, sich nach neuen Konsumenten umzusehen – was mit erheblichem Erfolg auch gelang. Viele der erfolgreichsten koreanischen Filme und Serien thematisieren soziale Bruchlinien. Allen voran „Squid Game“ und „Parasite“. Aber auch der Zombie-Slasher „Train To Busan“, der komplexe Mystery-Streifen „The Wailing“ oder der psychologische Thriller „Burning“ lassen sich vor dem Hintergrund einer schnell auseinanderdriftenden Gesellschaft erklären.

Südkorea stand in den 1970er-Jahren wirtschaftlich noch einigermaßen gleichauf mit seinem kommunistisch regierten nördlichen Nachbarn. Heute ist das Leben in der Hauptstadt Seoul für viele Koreaner nicht mehr leistbar. Mieten und höhere Bildung sind teuer. Vor allem die Altersarmut ist in Südkorea erschreckend hoch. Und die Scham vieler arbeitslos gewordener Eltern ist zu groß, um Hilfe von den eigenen Kindern anzunehmen. In keinem anderen OECD-Land nehmen sich so viele ältere Menschen das Leben. Diese soziale Kluft zeigt „Squid Game“ mit dem Holzhammer auf. Arme Menschen bringen sich darin zur Belustigung reicher Menschen gegenseitig um, bis nur mehr einer übrig bleibt. Die Hauptrollen in der Serie spielen Männer. Die Frauen sind eindimensional und werden zu Rädchen in der Geschichte degradiert. Mehrere Organisationen haben zum Boykott der Serie aufgerufen, weil sie Misogynie verstärke. Diese ist allerdings tief in der koreanischen Gesellschaft verwurzelt. Häusliche Gewalt ist alltäglich, nirgendwo sonst in der OECD ist der Gender-Pay-Gap so ausgeprägt: Um 34,6 Prozent verdienen Frauen in Südkorea im Schnitt weniger als Männer.

Viele koreanische Serien haben zwar vorhersehbare Handlungsbögen, erforschen aber doch eine interessante Palette von Themen, insbesondere die Spannungen zwischen traditionellen familiären Werten und wirtschaftlicher Entwicklung. Diese Differenzen bringen sie in der Regel geschickter auf den Punkt als die Konkurrenz in Asien und Europa – und werden nicht nur zu Exportschlagern, sondern bringen auch reichlich Touristen ins Land. Jeder zweite Südkorea-Reisende gibt an, bereits ein K-Drama gesehen zu haben. In den kommenden Jahren wird die Flut an koreanischer Kultur nicht abreißen. Dafür haben die führenden Kulturindustrie-Konzerne bereits viel zu viel investiert. Auch der südkoreanische Staat ist mit milliardenschweren Förderprogrammen tief involviert. Die Maschine ist gut geölt. Sie ist anpassungsfähig, weitgehend schmerzbefreit und spielt auf der Gefühlsklaviatur so virtuos wie sonst keine zweite auf dieser Welt. Die Welle läuft.