Wer braucht noch Dirigenten?
Ein Mensch steht erhöht auf seinem Pult und gibt Handzeichen. Die Menge unter ihm folgt unisono. Ihr Anführer geht in die Knie, verausgabt sich, schwitzt. Doch das eigentliche Produkt entsteht bei den vielen, die auf Edelholzkisten und Blechrohren fiedeln, zupfen, blasen und schlagen.
Kaum ein anderer Beruf veranschaulicht das Prinzip Leadership so akkurat wie jener des Dirigenten. Noch immer scheint hier das Modell des autoritären Anschaffens und willenlosen Folgens praktiziert zu werden, in einer Kunstform, die mehr und mehr zu einem Museum ihrer selbst geworden ist. Doch auch die Institution Dirigent hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten radikal gewandelt – nur nicht bei den Wiener Philharmonikern, die schon aus Prinzip keinen Chef haben. Was sie für ihre wenigen Konzertprogramme mit meist traditionellen Werken und einem Pool erfahrener Gastdirigenten auch nicht brauchen. Schließlich haben sie einen Hauptjob in der Wiener Staatsoper, da ist Flexibilität überlebensnotwendig, da muss man sich einstellen können auf jeden neuen Mann am Pult.
Aber Tyrannen wie Arturo Toscanini, jähzornige Despoten wie Fritz Rainer oder George Szell, ja selbst pingelige Ätzer wie Karl Böhm gibt es nicht mehr, und abgehobene Moguln wie der über Jahrzehnte seine Berliner Philharmoniker dominierende Herbert von Karajan haben als Modelle ausgedient. Kein Orchester der Welt würde respektloses Benehmen jener Art heute mehr durchgehen lassen.
Der Dirigent (Frauen sind in diesem Beruf leider immer noch in der Minderzahl, wenn sie auch seit Simone Young, Marin Alsop oder Susanna Mälkki immerhin nicht mehr als Wundertiere bestaunt werden) hat sich verwandelt. Der Frack als Berufsuniform hat ausgedient; man betritt das Podium in Nehru-Jacke mit Stehkragen, im chinesischen Seidenfähnchen oder gleich im legeren schwarzen Kittelhemd. Viele Dirigenten verzichten inzwischen sogar auf den Taktstock als Instrument ihrer Macht, formulieren die Musik lieber mit bloßen Händen.
Und sie verlassen, kaum ist der letzte Ton verhaucht, ihr Podest erstaunlich schnell, nehmen den Applaus zwischen den Musikern entgegen, lassen in einem – etwa bei einer Mahler-Sinfonie endlos anmutenden, fein auschoreografierten – Defilee jeden Solobläser und jede Instrumentalgruppe bis hin zur Triangel einzeln aufstehen. „Partizipation“ nennt man das heute in Führungskräfteseminaren. Doch das meiste Geld und die größte Aufmerksamkeit streichen die Pultstars immer noch ein.
Sie haben freilich Federn lassen müssen. Außer Riccardo Chailly mit seinem Leipziger Gewandhausorchester bei der Decca und Antonio Pappano mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom bei Warner Classics hat heute kein Dirigent von Rang mehr einen längerfristigen Plattenvertrag. Und Geld wird mit CDs sowieso kaum noch verdient, sie schmeicheln lediglich dem Prestige, verewigen das klingende Erbe für die Nachwelt.
Der Musikbetrieb hat sich spezialisiert. Da sind die Opernkönner, die Barock-Freaks, die Neue-Musik-Fexe. Immer weniger Dirigenten decken ein Repertoire von Bach bis Bartók ab, das nicht nur die symphonischen Filetstücke, sondern auch Rares umfasste. Der souverän über alle und alles gebietende Taktstock-Titan ist ein Auslaufmodell. Ein Dirigent muss heute eine Vision für sein vom Zeitgeist bedrohtes Orchester haben, dessen Existenz aus finanziellen wie inhaltlichen Gründen immer öfter infrage gestellt wird – nicht nur in den USA. Auch die für 2016 geplante, noch nicht einmal durch Sparmaßnahmen begründbare Fusion der beiden Orchester des Südwestdeutschen Rundfunks in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg spricht eine sehr deutliche Sprache, gegen die auch die beiden aus Protest scheidenden Chefs Stéphane Denève und Francois-Xavier Roth nichts ausrichten konnten.
Ein Orchesterleiter soll Identifikationsfigur sein, wie etwa der Kanadier Yannick Nézet-Séguin in Philadelphia, der überall als Posterboy herhalten muss und sich in Talks nach den Konzerten nahbar, auskunftsfreudig und begeisterungsfähig gibt: „Ich habe dieses ehrwürdige Orchester wirklich zu meinem gemacht, ich spüre, das ist eine gemeinsame Sache.“ Er dient zwei weiteren Klangkörpern in Montréal und Rotterdam – denn exklusiv mag sich heute auch kaum einer der jüngeren Dirigenten mehr binden.
Bei den Wiener Symphonikern bemüht sich gegenwärtig der Schweizer Aufsteiger Philippe Jordan darum, Programme zu gestalten, die bewusst die Geschichte und Tradition dieses Orchesters widerspiegeln sollen. An der Pariser Oper, wo er ebenfalls als Generalmusikdirektor amtiert, hat Jordan dem Hausorchester viele Konzerte und CD-Aufnahmen verschafft, um dessen Selbstwertgefühl zu steigern.
Der erste Mann eines Orchesters soll nun auch zum Anfassen sein – und trotzdem weiter über allen stehen. Er soll Bildung und Jugendarbeit ernst nehmen, an multimedialen Strategien für die Verbreitung der klingenden Botschaft auch über Kino-Leinwände und Videostreams teilhaben, eloquent in Interviews und immer für einen Witz gut sein. So wie Simon Rattle das meisterlich beherrscht, der einmal meinte, mit den notorisch störrischen Berliner Philharmonikern zu arbeiten, das sei, als habe man irren Sex mit jemandem, den man partout nicht leiden könne.
Störrisch können aber auch andere Klangkörper sein: etwa das eher mittelprächtige Bonner Beethoven-Orchester. Dort hatten sich kürzlich 98 von 101 Musikern, die allerdings nur eine Empfehlung abgeben können, nach Probedirigaten für den Deutsch-Japaner Jun Märkl als neuen Chef ausgesprochen. Die prominent besetzte Findungskommission bevorzugte den Franzosen Marc Piollet. Nachdem dieser Konflikt auch über die – vor allem sozialen – Medien ausgetragen wurde, steht nun keiner der beiden Dirigenten mehr zur Verfügung.
Früher wurden solche Divergenzen meist unter den Teppich gekehrt; grummelnd richtete sich das Kollektiv stets nach den Geldgebern. Heute sind solche Querelen – auch dank Twitter und Facebook, in denen die eigentlich Machtlosen zumindest ihre Meinung zum Machtinstrument aufblasen können – schnell öffentlich. Und damit haben die sich viel störrischer als früher gebenden Musiker plötzlich einen Trumpf in der Hand. Wenn es so weitergeht, werden es Dirigenten künftig schwer haben, so unangefochten wie bisher auf dem Podium zu stehen. Wie soll, wenn jeder Musiker eine Meinung hat und diese immer plakativer kundtut, ein Alphatier sich halten?
Immerhin haben ausgerechnet die Berliner Philharmoniker dieser Tage bewiesen, dass sie für eine Überraschung wider den Trend gut sind. Bei der öffentlich angekündigten Wahl des Nachfolgers für den 2018 scheidenden Simon Rattle am 11. Mai hatte sich auch nach elf Stunden Diskussion kein Kandidat durchsetzen können. Wie man hört, ging es dabei vor allem um Rendite versprechende Galionsfiguren wie Christian Thielemann oder Andris Nelsons. In einem geheim gehaltenen zweiten Wahlgang Ende vorvergangener Woche wurde in nur drei Stunden Kirill Petrenko gekürt: Der 43-jährige Russe, der als junger Mann auch in Vorarlberg lebte, mit besten Reputationen versehen von der Komischen Oper Berlin, der Wiener Staatsoper, den Bayreuther Festspielen und der Bayerischen Staatsoper, ist nun der erst siebente Chef eines der weltbesten Orchester. Das hat Signalfunktion. Dabei galt er als Außenseiter. Denn er hat ein eklektizistisches und kleines Konzertrepertoire, stand erst drei Mal in Berlin am Pult. Er gilt als scheu, introvertiert, ganz der Musik verbunden. Der Klassikbetrieb interessiert ihn nicht.
Genau darin liegt die Chance für die Berliner. Petrenko ist das Gegenteil seines Vorgängers Simon Rattle. In den USA, in Großbritannien, China und Japan kennt man ihn kaum. Er hat wenige Platten eingespielt. Orchester und Chef können sich also nun als Marke wirklich neu erfinden. Petrenko selbst, der sogar auf Anwesenheit bei der Verkündigung verzichtete, ließ nur mitteilen: „Ich umarme dieses Orchester.“
Das hätte Toscanini nie gesagt. Christian Thielemann wohl auch nicht.