Pop

Wer fühlen will, muss hören: Die Musik-Eskapaden des David Lynch

Als Filmemacher ist er legendär, aber auch abseits des Kinos hochaktiv: David Lynch widmet sich seit Jahrzehnten seiner Lieblingsleidenschaft, einer traumverlorenen Spielart des Pop. Nun schenkt er der Welt ein Album, das von sublimer Liebe, fallenden Himmeln und spiegelnden Klingen fantasiert.

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Als die pausbäckige Blondine auf die karge, im Gestänge eines Heizkörpers improvisierte Bühne tritt, um scheu lächelnd ihren großen Auftritt zu vollziehen, steht im Grunde bereits alles fest. Schon in „Eraserhead“ (1977), seinem Regiedebüt, setzt David Lynch auf die entrückende und sinistre Wirkung ätherischer Musik. „The Lady in the Radiator“, dargestellt von der jungen Sängerin Laurel Near, die hier ihren einzigen (und denkwürdigen) Kinoauftritt absolviert, ist in jenem Film eine Miniatur-Monroe mit künstlichen Hautschäden, die in alptraumhaftem Ambiente den Song „In Heaven (Everything is Fine)“ zum Besten gibt: Sie bewegt ihre Lippen übrigens zur Stimme des Komponisten Peter Ivers.

Und so, wie sie da steht, allein vor dem grauen Vorhang, so wird das in Lynchs Œuvre bleiben: Einsame Frauen, die – wie im Film Noir der 1940er-Jahre – auf den Showbühnen nächtlicher Etablissements transzendente Songs intonieren, dabei den Glamour mit ihrer Verletzlichkeit gegenverrechnen, gehören zu den ikonischen Fixpunkten im Werk des Regisseurs.

Nach musikalischen Bezügen muss man bei Lynch nie lange suchen. Sie liegen offen vor einem, gehören in der Regel sogar zur Grundarchitektur seines Schaffens. Pop aus den Fifties und Sixties, aus der Zeit seiner Kindheit und Adoleszenz, sind die Basis der Musik, an der Lynch arbeitet. Sein Film „Blue Velvet“ (1986) zitiert schon im Titel einen von Tony Bennett geschriebenen, von Bobby Vinton interpretierten Song aus dem Jahr 1963, den im Film auch Hauptdarstellerin Isabella Rossellini vorträgt.

Roy Orbisons Sandmann-Schlager „In Dreams“ aus demselben Jahr, der in „Blue Velvet“ ebenfalls prominent aufscheint, mit Leuchtmikrofon lippensynchron vorgetragen von Dean Stockwell, berichtet von einem „candy colored clown“, der jede Nacht ins Kinderzimmer schleicht und mit Sternenstaub in den Schlaf begleitet. Das makabre Potenzial solcher Lieder hat Lynch klar im Auge: Sein 2011 veröffentlichtes Album nannte er „Crazy Clown Time“, und an Zirkusromantik dachte er dabei eher nicht. Wieso sollte man auf Spaß in der Manege anspielen, wenn man auch den Horrorclown aus dem Sack lassen kann?

Das ferne Dröhnen

Und wie ernst Lynch stets die akustische Ebene seiner Filme nahm, ist diesen von Beginn weg anzuhören: Gemeinsam mit dem ingeniösen Sound-Designer Alan Splet (1939–1994) erschuf Lynch von „Eraserhead“ an, auch in „The Elephant Man“ (1980), „Dune“ (1984) und „Blue Velvet“ industrielle Kinoklangwelten, in denen Tag und Nacht ein fernes Dröhnen, ein maschinelles Rauschen zu herrschen schien. Denn David Lynch, inzwischen 78, war nie nur Filmemacher. Seine überbordende Kreativität zeichnet das Bild eines Universalkünstlers, eines populären Surrealisten vieler Genres: Neben dem Kino arbeitet Lynch in seinem kalifornischen Atelier in den Feldern Malerei und Grafik, Skulptur und Design. Und eben auch: an der Musik.

Tatsächlich ist die Klangkunst seit seinen letzten filmischen Äußerungen – dem Kinoexperiment „Inland Empire“ (2006) und den 18 Episoden der späten dritten Staffel der Serie „Twin Peaks“ (2017) – in gewisser Weise zu Lynchs primärem Schaffensfeld geworden. Als Musik-Outsider benötigt er Beistand, sein Werk ist daher von Kollaborationen geprägt. „Blue Velvet“ markierte die erste Zusammenarbeit des Regisseurs mit dem Komponisten Angelo Badalamenti (1937–2022), der ab da nahezu alle Lynch-Werke, die drei „Twin Peaks“-Staffeln inklusive, mit seiner versunkenen Musik versorgte. Am Tag, nach dem Badalamenti verstorben war, gab Lynch in seinem täglichen Online-Wetterbericht eine Art Verlustanzeige in drei Wörtern auf: „Today – no music.“

Mit Badalamenti gemeinsam hob er um 1985 auch die mehr als 20 Jahre währende erfolgreiche Zusammenarbeit mit der US-Sängerin Julee Cruise (1956–2022) aus der Taufe, die etliche Alben, Konzerte und Soundtrack-Songs abwarf; Lynch schrieb die Texte, Badalamenti die Musik. Seit 2006 werkt ein weiterer Musikprofi an Lynchs Seite: Der Produzent, Komponist und Sound-Designer Dean Hurley ist inzwischen der wohl engste musikalische Kompagnon des Regisseurs. Er hat auch federführend an jenem Album mitgewirkt, das David Lynch soeben gemeinsam mit der US-Sängerin ChrystaBell veröffentlicht hat: ein erneut mit traumverlorenen Melodien und gehauchtem Gesang ausgestattetes Werk, das außerhalb von Zeit und Raum zu existieren scheint (siehe dazu auch unsere Albumkritik).

„Niemals in den Ruhestand“

Mit einer Nachricht, die auf ein aktuelles Interview mit der britischen Filmzeitschrift „Sight and Sound“ zurückgeht und die er anschließend in einem Posting auf der Plattform X näher erklärte, erregte David Lynch vor wenigen Tagen Besorgnis: Ein Lungenemphysem werde ihn wohl für den Rest seines Lebens an sein Zuhause in Los Angeles binden. Filme zu drehen werde schwierig werden. Aufgrund seines „langjährigen Rauchens“, das er jahrzehntelang über alle Maßen genossen habe, sei es zu seiner COPD-Erkrankung gekommen, diesen Preis müsse er nun zahlen. Seit über zwei Jahren rauche er nun nicht mehr, und die gute Nachricht sei, „dass ich bis auf das Emphysem in ausgezeichneter Verfassung bin“. Er schließt mit den Worten, er sei „absolut glücklich“ und werde „niemals in den Ruhestand treten“.

Möglicherweise bedeutet dies ja nun auch erhöhtes Potenzial für weitere Klangabenteuer. Für einen Musikamateur ist David Lynch diesbezüglich erstaunlich produktiv: Ein knappes Dutzend Studioalben hat er seit 2007 realisiert, dazu all die Film-Soundtracks, an denen er gern tatkräftig mitmischt, an die 20 Singles und etliche Musikvideos liegen zudem vor. Lynch geht am liebsten ohne Vorbereitung ins Studio, lässt sich – als der intuitive Künstler, der er ist – auf den Augenblick ein. Die Prozesse, die zu seinen Musikveröffentlichungen führen, mag er dennoch nicht Improvisation nennen, der Begriff Experimente behagt ihm schon eher.

Es ist natürlich kein Zufall, dass gerade die Musik, von deren Direktzugang in die menschliche Psyche alle anderen Künste nur träumen können, in Lynchs so unverwechselbarem Schaffen eine derart entscheidende Rolle spielt. Wer fühlen will, muss hören: Welchen grausigen Fund macht Kyle MacLachlan gleich eingangs in dem Film „Blue Velvet“, als er durch das hohe Gras eines Feldes irgendwo im ländlichen Amerika in die Erde greift? Genau: ein abgetrenntes, von Ameisen bekrabbeltes menschliches Ohr.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.