„West Side Story“ und „Annette“: Lieder von Liebe & Verbrechen
Mit Haien kennt sich Steven Spielberg aus, ein großer Weißer begründete anno 1975 bekanntlich die Blockbuster-Karriere des damals 28-Jährigen. Jahrzehnte später entlässt Spielberg nun ganz andere Sharks in die Freiheit: Als stolze Puertoricaner wollen diese weiß gar nicht sein, zubeißen allerdings können sie, wenn nötig, auch. Der im New York City der späten 1950er-Jahre blutig eskalierende Territorialkampf zwischen den Jets, wie sich die weißen Punks der Stadt nennen, und den immigrierten Sharks gehört zu den Highlights der amerikanischen Musical-Literatur.
Als der Regisseur Robert Wise und der Choreograf Jerome Robbins ihre Filmversion des Broadway-Hits „West Side Story“ in die Kinos brachten, war Spielberg gerade 14 Jahre alt. Und er machte schon damals, 1961, großes Kino, auch wenn es vorerst noch Amateurfilme waren; er inszenierte mit seinen Freunden unter anderem ein erstaunlich realistisch wirkendes Weltkriegsgefecht („Escape to Nowhere“), probte damit schon für seinen viel späteren „Saving Private Ryan“. Genau 60 Jahre nach dem Kinostart von „West Side Story“ legt Spielberg nun seine farbenprächtige, wohlklingende Version jenes Filmklassikers vor: eine dynamisch in Szene gesetzte, von Spielberg-Langzeitpartner Janusz Kaminski auch glänzend fotografierte Übung in Nostalgie.
Die Fifties-Limousinen glänzen wie fabrikneu an den Straßenrändern, und das vorgeblich so harte proletarische Milieu atmet den Duft des Pittoresken; noch die letzte Hinterhofwohnung bietet märchenhaften Rückzugsraum, und jede Polizeistation ist nur ein Spielplatz für die motorisch unruhigen Teenager. (Das anheimelnde Szenenbild besorgte Wes-Anderson-Komplize Adam Stockhausen.) Doch irgendwann schlägt die Heiterkeit ins Drama um, weil eine interracial love affair (zwischen dem Jet Tony und der Latina Maria) den Bandenkrieg unaufhaltsam radikalisiert – und am Ende liegen Leichen am Boden.
Die Upper West Side in Manhattan, inzwischen zu einer Enklave der Superreichen geworden, ist das titelgebende Biotop, und wenn die Jets durch das heruntergekommene Studio-New-York paradieren und plötzlich in choreografischen Synchrontanz ausbrechen, sieht es aus, als wären sie Teilnehmer eines Flashmobs. Spielberg folgt alten dramaturgischen Formeln: Shakespeares „Romeo und Julia“ steckt überdeutlich schon im Stoff, jede der Figuren gehorcht dem Rhythmus des von Tony Kushner verfassten Drehbuchs, wie am Schnürchen. Und ein Revolver, der als Requisit auftaucht, muss eben irgendwann auch abgefeuert werden. Einen Zug zur Aktualisierung spürt man nur thematisch: Als Auseinandersetzung mit Migration, Rassismus, toxischer Männlichkeit und Identitätspolitik erscheint „West Side Story“ angestrengt, die simpleren Reize (Tanz, Romantik, Zorn, Tragödie) passen besser in diesen Rahmen. Das Ensemble ist fotogen, Debütantin Rachel Zegler legt ihre Maria zuckersüß an, „Baby Driver“ Ansel Elgort gibt einen zu allem entschlossenen Tony, und Ariana DeBose zieht als schlagfertige Anita alle Sympathien auf sich. Mike Faist stattet den Jets-Chef Riff mit drahtiger Widerstandsfähigkeit aus, David Alvarez dessen Gegenspieler Bernardo mit klassischerem Machismo. Und für Rita Moreno, die – neben Natalie Wood als Maria – in der originalen Kinofassung der „West Side Story“ Anita gespielt hatte (und dafür 1962 als erste Latina einen Nebendarstellerinnen-Oscar erhielt), erfanden Kushner und Spielberg eine neue Figur. Als Herz und Ikone der „West Side Story“ durfte Moreno den neuen Film auch gleich koproduzieren.
Leonard Bernsteins Musik schließlich, garniert mit Stephen Sondheims Texten, ist der immer noch gut geölte Motor dieses Unternehmens: zeitloses Entertainment zwischen infektiösem Gassenhauer („I’d like to be in America“) und triefender Schnulze („Maria“; „Tonight“), dirigiert und eingerichtet von einem, der weiß, wie maximale Emotionswirkung zu erzielen ist – Gustavo Dudamel.
Während Spielberg als hochbegabter Frischling im Musical-Genre also auf Nummer sicher geht, wählt ein anderer Regisseur den Weg des heftigsten Widerstands: Der experimentierfreudige Franzose Leos Carax („Holy Motors“) subvertiert in seinem Singspiel „Annette“ die Gattung in vielfacher Hinsicht. Indem er den Schritt vom Mainstream ins Abseitige, von den Sharks zu den Sparks wagt – das kalifornische Pop-Duo, das sich seit 1972 Sparks nennt, zeichnet für Story, Drehbuch und Soundtrack verantwortlich –, begibt er sich in eine düster-bizarre Konstruktion: Ein mit inneren Dämonen ringender Stand-Up-Comedian, der den närrischen Namen Henry McHenry trägt (Adam Driver) und eine an ihm langsam verzweifelnde Opernsängerin (Marion Cotillard) setzen ein Kind in die Welt, nach dem der Film benannt ist. Annette, so will es die verquere Logik dieses Films, ist eine lebende, singende Holzmarionette, die den psychischen und moralischen Verfall seines Vaters sühnen muss.
Es wäre unangebracht, an dieser Stelle Näheres zum Plot von „Annette“ zu skizzieren, dessen unberechenbare Bewegungen man erlebt haben muss, um sie glauben zu können. Nur so viel: Carax hat ein dunkel schimmerndes Fantasiegebilde hergestellt, das musikalisch wie inhaltlich gewaltig an den Nerven zerren kann, aber die künstlerische Freiheit und Originalität, die darin zum Ausdruck kommen, verdienen Respekt. „Annette“ ist ein Unikum, ein Alptraum mit Lust an Illusionsbruch und V-Effekt, eine zu gleichen Teilen absurde und wahnhafte Vision. Sie führt vor, wie weit das erzählerische Kino seine alten Zwangsvorstellungen von Romantik und Verbrechen treiben kann.