Kino

Wider alle Vernunft: Der Höhenflug des Trickfilmateliers Studio Ghibli

Die Tokioter Animationsfilmmanufaktur Studio Ghibli hat sich zur Weltmarke entwickelt. Die surrealen Kreationen ihres Großmeisters Hayao Miyazaki sind populär wie nie zuvor. Nun veröffentlicht dieser seine vermutlich letzte – und radikalste – Kinoarbeit.

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In den Filmen des japanischen Künstlers Hayao Miyazaki meint man zu träumen, sich im Unbewussten zu verlieren; man wird regelrecht eingesponnen in wildwuchernde Fantasien, die – auch wenn die jugendlichen Zentralfiguren dieser Erzählungen mit treuherzigem Blick durch die Welt streifen – ihre drastischen, traumatischen Seiten hat. Die riskante Balance von Faszination und Angst, die Grundlage der Schaulust, ist ein Wesensmerkmal der Miyazaki-Filme, und sie ist biografisch begründet. Der Künstler, geboren während des tobenden Zweiten Weltkrieges in Tokio (sein Vater arbeitete in einer Militärflugzeugfabrik), hat oft von seinen frühesten Kindheitserinnerungen gesprochen: von Feuer, Bombenhagel und aufsteigender Panik.

So beginnt auch Miyazakis jüngster Film, dessen harm- und schmuckloser deutscher Verleihtitel – „Der Junge und der Reiher“ – nicht recht zu passen scheint zur schieren Extravaganz des Gebotenen, zum darin vollzogenen Tauchgang ins Irrationale. Ein Bub rennt, getrieben von dem Wunsch, seine Mutter zu retten, ins Feuer eines von Fliegerbomben getroffenen Spitals. Die Heftigkeit, mit der Miyazaki diesen tragischen Prolog skizziert, wischt die Vorstellung, große Zeichentrickfilme müssten niedlich, heiter und kindgerecht sein, unmissverständlich vom Tisch. Dabei haben die Exzesse des Vernunftwidrigen, auf die dieser Film zusteuert, da noch gar nicht begonnen.

Man muss all jene, die noch nie ein Werk von Hayao Miyazaki gesehen haben, um diese potenzielle Erfahrung beneiden. Denn ihnen steht Außerordentliches, auch Ungeheuerliches bevor, etwas, auf das einen die seriellen Produktionen der US-Animationsmarktführer Disney und Pixar nicht einmal ansatzweise vorbereiten: eine Ahnung von der Freiheit des entfesselten kreativen Geistes. (Fast alle zwischen 1984 und 2013 entstandenen Regiearbeiten Miyazakis sind übrigens aktuell via Netflix abzurufen.)

Hollywoods Trickfilm-Mainstream kanzelt Miyazaki in deutlichen Worten ab: „Ich muss sagen, dass ich Disneys Werke hasse“, erklärte Miyazaki einst. Sowohl die Einstiegs- als auch die Austrittsluken in Disney-Filmen seien „zu niedrig und zu breit zugleich“. Er sehe in diesen Arbeiten „nichts als Verachtung für das Publikum“. In Ansagen wie diesen klingt eine Art Produktionsgrundlage an: Tatsächlich fordert Miyazaki ungleich mehr von seiner Zuschauerschaft als ein typischer US-Animationsfilm.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.