Pop auf TikTok: Wir haben nur ein paar Sekunden!
Ein heißer Verdacht: TikTok ist das neue MTV-und die kurzen Handy-Clips die Musikvideos einer neuen Generation. Die Geschichte wiederholt sich: Zu den Anfängen des Pop-Fernsehens in den 1980er-Jahren erhoben Künstlerinnen und Künstler gern den Verdacht, dass es sich bei diesen neuen Musikvideos nur um einen billigen Marketing-Gag handeln könnte. Kurze Zeit später wurden sie zu einer eigenen Kunstform. Heute sind es Musikerinnen wie Halsey, FKA Twigs oder Florence and the Machine, die den digitalen Songschnipseln, die meist innerhalb von Sekunden weitergewischt werden, skeptisch gegenüberstehen und das auch öffentlich, nicht zuletzt auf TikTok, kritisieren. Denn: Songs werden inzwischen nicht nur extra für TikTok konzipiert (also: kurze Spielzeit, eingängige Lyrics, Mitmach-Faktor), sie verändern auch, wie wir Musik konsumieren. Millionenfrage: Verschwindet mit TikTok auch der klassische Song, wenn das eigentliche Ziel nur noch Melodiefetzen und Lyrikschnipsel sind? Versuch einer Antwort in sechs Künstler:innen.
Die texanische Sängerin Taylor Gayle Rutherford startete ihre Karriere gleich direkt auf TikTok: Glaubt man der Selbstdarstellung der heute 18-Jährigen, fragte sie ihre Tik-Tok-Fans zunächst einfach nach Songideen. Ein Follower (der sich als Marketing-Mitarbeiter der Plattenfirma Atlantic Records herausstellen sollte) bat Gayle um einen Trennungssong, der das Alphabet beinhalten sollte. Voilà: Ein paar Wochen später veröffentlichte sie den Hit "abcdefu". Zwei EPs ("a study of the human experience") später darf sie mit Superstar Taylor Swift auf eine ausgedehnte Welttournee gehen.
Ebendiese verwandelte heuer den definitiven popkulturellen Matchball. Als Taylor Swift Ende Oktober ihr neues Album "Midnights" veröffentlichte, brach sie auf einen Schlag mehrere Rekorde (unter anderem belegte sie als erste Künstlerin alle Top-10-Plätze der Billboard Hot 100 gleichzeitig).Die TikTok-Rezeption der Platte, die man neben Rosalías "Motomami" (dazu später mehr) als ein zentrales Album des Jahres sehen kann, war entsprechend enorm: Hinter gefühlt jedem TikTok-Swipe fand sich eine Swift-Referenz, vor allem die Songs "Anti Hero" (zu der Zeile "It's me, hi, I'm the problem, it's me" werden eigene Unzulänglichkeiten aufs Korn genommen) und "Bejeweled" (dazu kreierte ein User einen ironisch-dadaistischen Tanz) wurden zu Selbstläufern im endlosen TikTok-Stream.
Am exemplarischsten für dieses Album, das bisweilen doch einen Tick berechnend daherkam, war aber der rund um den Song "Mastermind" entstandene Trend. Vor dem Hintergrund der Verszeilen "What if I told you I'm a mastermind?/And now you're mine/It was all by design" erzählen User:innen, wie sie ihre Liebesgeschichten und Romanzen von langer Hand geplant und manipuliert haben-so weit, so toxisch. Und das führt uns auch schon zum britischen Megastar Dua Lipa.
Denn TikTok ist, Überraschung, nicht immer nur eine nette Wohlfühl-und Schmeichel-Plattform. Das musste Dua Lipa buchstäblich am eigenen Leib erfahren: Bei einem Auftritt 2018 hatte sie zu ihrem Hit "One Dance" nach Einschätzung einiger Fans etwas zu lazy getanzt, indem sie ihre Hüfte recht mechanisch bewegte; schließlich geriet ebendiese Tanzbewegung zum Meme, also zum digitalen Running Gag.
Der "Dula Peep Dance Move" (nach einem legendären Versprecher der US-Talkshow-Moderatorin Wendy Williams) wurde zigtausendfach verwitzelt. So lustig das für die Nachtanzenden gewesen sein mochte, so unangenehm war es für Lipa selbst: In Interviews erzählt sie, wie sie, ausgelöst durch das Tanz-Meme, eine derartige Mobbing-Welle erlebte, dass sie ihre kompletten Social-Media-Kanäle löschte. 2022 wendete sie das Blatt dann kurzerhand selbst: Für ihre "Future Nostalgia Tour" integrierte sie den Tanzschritt in die Choreografie zur Single "Don't Start Now". Der Dula Peep Dance ist jetzt nämlich nicht mehr witzig, sondern iconic. Und Geschichte ist, was man daraus macht.
Wir swipen weiter zur Katalanin Rosalía Vila Tobella, die mit ihrer Latin-Pop-Fusion nicht weniger als die Pop-Weltherrschaft anstrebt. Und wie klingt das? Nach elektronischer Rhythmik mit lateinamerikanischer Folklore, die zwischen zarten Klavierballaden, Reggaeton und leidenschaftlichem Dance-Pop pendelt. Aber das ist noch lange nicht alles: Rosalía setzt mit ihrem Album "Motomami" auch neue TikTok-Maßstäbe. In diesem Jahr ging die 30-Jährige mit einem Video um die Welt, das sie dabei zeigt, wie sie während des Songs "Bizcochito" besonders aggressiv (manche sagen: sassy) einen Kaugummi kaut.
Der Witz: Eigentlich hatte sich Rosalía, wie sie kürzlich in einem Podcast erzählte, während einer Probe nur gelangweilt und rumgeblödelt. Heute gehört der Kaugummi-Moment zum Highlight ihrer Live-Show. Anleitung zum Nachmachen: Rechte Hand in die Hüfte stemmen, mit den Augen rollen und das Kauen pantomimisch-übertrieben darstellen.
Ebenfalls mit der Memeifikation des eigenen Songs konfrontiert sah sich der britische Pop-Superstar Harry Styles. In "As It Was",einer Single-Auskopplung aus seinem aktuellen Album "Harry's House", heißt die sprech-gesungene Bridge: "Leave America, two kids follow her/I don't wanna talk about who's doin' it first." Für TikTok-unvertraute Konzertbesuchende ergab sich daraufhin bei Styles-Konzerten ein sonderbares Bild: Die Fans schrien sich mit den Worten "Leave America" die jugendliche Seele aus dem Leib. Damit mokierten sich die Harry-Anhänger in erster Linie darüber, dass Styles deutlich mehr Konzerte in den USA als in anderen Ländern spielte.
In einer anderen Lesart soll die Betonung dieser zwei Wörter eine Kritik an den zuletzt immer reaktionärer gewordenen Vereinigten Staaten ausdrücken-Stichwort Abtreibungsgesetze und latenter Rassismus. Kommuniziert wurde der Witz, Sie ahnen es, via TikTok. Nach den Konzerten fanden sich im Stream oft nur Kurzvideos dieser beiden gebrüllten Wörter-das restliche Konzert schien gar nicht mehr so wichtig.
Zwischenfrage: Sind das schon die neuen ABBA? Die schwedische Metal-Band Ghost hat-gegen jede Wahrscheinlichkeit-tatsächlich die besten Voraussetzungen, um in die großen Fußstapfen der alten Pop-Legenden zu treten. Denn: Keine Band auf diesem Planeten schreibt derzeit so eingängige Melodien zwischen Classic Rock und Power Pop und verführt ihre Fans mit derart überspitzt formulierten Lyrics.
Während Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid als Bühnen-Avatare in einer Londoner Konzerthalle für alle (Pop-)Ewigkeit konserviert sind, geht die Band um den charismatischen Sänger Tobias Forge mindestens drei Tanzschritte weiter und sucht die ganz große Bühne. Dass das unerhört eingängige Mitsing-Opus "Mary On A Cross" (das bereits 2019 auf der EP "Seven Inches Of Satanic Panic" erschienen ist) heuer zum viralen Sommerhit mutierte, musste sich der 41-jährige Forge aber erst einmal von seiner eigenen Tochter erzählen lassen, wie er kürzlich in einem Interview gestand. Kurze Zeit später rief aber schon die Plattenfirma an, und Forge, der nicht nur als Songschreiber und Entertainer, sondern wohl auch als Vermarkter seiner selbst mit einigen Wassern gewaschen ist, nützte den TikTok-Fame gleich dafür, um "Mary On A Cross" noch einmal in einer neuen Social-Media-Version ("slowed+ reverbed") zu veröffentlichen.
Und was kommt als Nächstes? Nur der TikTok-Algorithmus kann das wissen.