Rothko ja, Stockhausen nein
Das Ressentiment gegen die Neue Musik blieb dennoch gesellschaftlich intakt; es wirkt bis heute nach. Der britische Autor David Stubbs weist in seinem Buch „Fear of Music“ auf den seltsamen Umstand hin, dass abstrakt-avantgardistische bildende Kunst seit Jahrzehnten als Massenphänomen gefeiert wird, während musikalische Dissonanz-Experimente ein Nischendasein fristen, als „anstrengend“ oder gar „hässlich“ gelten. Kaum jemand würde heute noch ernstlich behaupten wollen, Malerei müsste gegenständlich oder leicht entschlüsselbar sein, aber Musik, die man nicht mit- oder nachsingen kann, gilt in weiten Kreisen immer noch als unvermittelbar. Im Untertitel seines Buchs bringt Stubbs die Grundfrage auf den Punkt: „warum die Menschen Rothko verstehen, aber Stockhausen nicht“.
Natürlich: Eine Erklärung liegt im zeitlichen „Aufwand“, der für die Durchdringung einer Komposition zu leisten ist, während ein Gemälde oder eine Skulptur in Sekundenschnelle einen ersten, starken, danach zu vertiefenden Eindruck erwecken kann. Aber darin liegt nicht die ganze Wahrheit. Die Menschen scheinen an ihren inneren Dur- und Moll-Rahmen viel fester gebunden zu sein, als an den Wunsch, sich jedes Bild sofort „erklären“ zu können.
Am 13. September jährt sich Arnold Schönbergs Geburtstag zum 150. Mal, das laufende Jubiläumsjahr hält dazu eine Vielzahl an Veranstaltungen und Ausstellungen parat: etwa das Geburtstagskonzert im Großen Musikvereinssaal am 13. September, bei dem Schönbergs berühmte „Gurre-Lieder“ unter Petr Popelka, dem neuen Chefdirigenten der Wiener Symphoniker, zum Vortrag kommen werden.
Als „atonal“ mochte Schönberg seine Musik übrigens nie verstanden wissen, da sie in Wahrheit besonders „tonal“ orientiert war, auf den 12 Schritten der chromatischen Tonleiter fußte. Als Zerstörer althergebrachter Musikformen trat er niemals auf, komponierte auch in späteren Jahren immer wieder „konventionell“; er betrachtete die Tonalität nicht als Notwendigkeit, aber als Möglichkeit.
Die Zwölfton- und Reihentechnik, eine kompositorische Praxis ohne „Grundton“, ohne privilegiertes Zentrum, entwickelte der Kreis um Schönberg erst in den frühen 1920er-Jahren. Dabei ging es um nichts weniger als die Erneuerung des musikalischen Hörens durch quasi mathematische, algebraische Klangkonstruktionen. Die wissenschaftliche Durchdringung seiner Materie empfand Schönberg als zentral; „Style and Idea“ nannte er 1950, ein Jahr vor seinem Tod, eine Kollektion seiner kunsttheoretischen Essays. Von einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk träumte er zudem früh, nachzulesen in der Korrespondenz mit seinem Malerkollegen Wassily Kandinsky; in Opern wie „Von heute auf morgen“ (1929), dem ersten, gemeinsam mit seiner Frau Gertrud entworfenen und erstaunlich satirischen Zwölfton-Musiktheater, realisierte er wenigstens Aspekte jenes Traums.
Tennis mit Gershwin
Vor dem Naziterror musste der Jude Arnold Schönberg 1933 fliehen; er emigrierte, wie so viele seiner hochbegabten Zeitgenossen, nach Kalifornien, wo er mit George Gershwin Tennis spielte und mit Thomas Manns Familie Zeit verbrachte. Er lehrte auch dort, um sich sein Leben zu finanzieren, John Cage gehörte zu seinen Schülern. Die Sprache der musikalischen Dissonanz sickerte ins Kino ein: Der New Yorker Filmkomponist Leonard Rosenman nahm Privatunterricht bei Schönberg.
Auch Schönberg hätte gerne für den Film komponiert – allerdings nur zu seinen Bedingungen. Als er Ende 1935 mit dem MGM-Starproduzenten Irving Thalberg über einen Kompositionsauftrag für die Bestsellerverfilmung „The Good Earth“ verhandelte, forderte Schönberg nicht nur ein seinem Ruhm entsprechendes, also hohes Honorar, sondern auch die vollständige Kontrolle über die gesamte Tonspur: Selbstverständlich, so gab er Thalberg zu verstehen, müssten auch die Filmdialoge in den seiner Musik exakt angemessenen Tonhöhen gesprochen werden. Das Projekt zerschlug sich, wenig überraschend.
Schönbergs Strahlkraft
Schönbergs Lehren haben sich als einflussreich und nachhaltig erwiesen: Die Serielle Musik, die in Europa nach 1945 entstand, setzte bei seinen Vorgaben an, und so unterschiedliche Komponisten wie Ernst Krenek, Milton Babbitt und Elliott Carter folgten diesen. Selbst Igor Strawinsky komponierte in seinen späten Jahren in Schönbergs Manier. Der renommierte US-Musikkritiker Alex Ross sieht gar eine Verbindung zwischen bestimmten Passagen in Schönbergs Werk und charakteristischen Jazz-Phrasierungen.
Ein vielfach Begabter war Arnold Schönberg jedenfalls, nicht nur in Sachen Komposition und Malerei, auch auf dem Terrain des Humors. Als der legendäre Violinist Jascha Heifetz sich bei ihm beschwerte, dass er, um ein Schönberg-Konzert zu meistern, sich an seiner linken Hand einen sechsten Finger wachsen lassen müsste, entgegnete ihm der Komponist trocken: „Ich kann warten.“