Wo der Hammer hängt
Lassen Sie uns gemeinsam durchblättern, was in zwei Tagen nicht mehr zum Blättern sein wird. Am Freitag wird nach 320 Jahren der „Wiener Zeitung“, der ältesten noch erscheinenden Zeitung der Welt, ohne Not ein Begräbnis letzter Klasse bereitet werden. Man muss das nicht lange erklären, es ist ja ganz einfach. Die „Wiener Zeitung“ hat die Französische Revolution, das Metternich-Regime, das Jahr 1848, den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, den Nationalsozialismus und die Besatzungszeit überlebt. Es ist niederschmetternd, aber die Politik des Jahres 2023 hat das Blatt, das sich Häppchen-Infotainment und Phrasen-Schleuderei stets tapfer entgegengestemmt hat, nicht verkraftet.
Die drittletzte Ausgabe also, das Blatt vom gestrigen Dienstag. Auf dem Cover ein Herr Putin im Regen, wie ein begossener Prigoschin-Pudel. Es ist ein Foto, das von Erniedrigung erzählt. Ebenfalls auf der Frontseite vermerkt: AfD-Sieg, Lücken bei Kassenärzten, Fragen zur Treffsicherheit der Hilfen gegen die Rekordteuerung, Abschied vom russischen Gas. Schon Karl Valentin hat mit Erstaunen festgestellt, dass an jedem Tag genau so viel passiert, wie in eine Zeitung passt; in die „Wiener Zeitung“ passte und passt Tag für Tag viel Welt. Im Blatt vom Dienstag beispielsweise die Wahlen in Griechenland über Wiens hydrogeologischen Untergrund und die Trendsportart Sommerskispringen bis zur längst fälligen Ehrenrettung der Riesenhaie: „Der Megalodon war kein kaltblütiger Killer“. Am Freitag erscheint die letzte gedruckte „Wiener Zeitung“, der kümmerliche Rest der großen Mediengeschichte wandert ins Internet ab, was angesichts der Valentin’schen Verwunderung ein schlechter Witz ist.
Angriffsflug mit Steinschlägel
Jüngst war profil-Kolumnist Markus Huber mit Eva Blimlinger essen, die für die Grünen im Nationalrat sitzt, gemeinsam mit ÖVP-Medienministerin Susanne Raab federführend die „Wiener Zeitung“ zugesperrt hat und nun, wie Huber feststellen musste, „plötzlich keine Freunde mehr“ habe. Die ehemalige Rektorin der Wiener Akademie der bildenden Künste ist dafür bekannt, ihre Meinungen und Deinungen an die Schlosskirche von Wittenberg zu nageln. Bei der „Wiener Zeitung“ holte sie den Steinschlägel hervor. Die Zeitung, so hämmerte Blimlinger, werde nicht gelesen und gekauft. Daher: Demontage per Dampframme. Seitdem dürfte der eine oder andere Verlag, dessen Papierbedarf die Wälder der Taiga schont, das eine oder andere Theater, das gerade noch ohne Personenschleusensysteme infolge Massenansturms auskommt, vor Blimlingers Angriffsflug in Richtung schiere Quantität zittern. Was nicht genug gelesen und geschaut wird, über dem hängt fortan der Hammer. „Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter“, tadelte einst Bruno Kreisky, noch so ein Thesen-Nagler, sein Vis-à-vis. In diesem Sinne, statt hier abschließend ein paar Sätze aus dem Repertoire für Grabreden unterzubringen: Lernen S’ endlich Medien, Frau Politikerin und Herr Politiker!
Einen lehrreichen Mittwoch wünscht
Wolfgang Paterno