William Shakespeare: Wer war er - und warum bleibt er unsterblich?
Verschwörung
Ist Shakespeare tot? Diese eher rhetorische Frage stellte der Schriftsteller Mark Twain 1909 in einem stark polemisch gefärbten Buch (es ist soeben im Piper Verlag in deutscher Neuübersetzung erschienen), das zu ergründen suchte, wer der wahre Urheber jener 37 Theaterstücke und 154 Sonette sei, die unter dem Namen William Shakespeare heute verfügbar sind. Sein Leben und Wirken ist in der Tat sehr spärlich dokumentiert, und die wenigen überlieferten Papiere verweisen keineswegs auf die Karriere eines virtuosen Dramatikers; sogar das Shakespeare’sche Testament gilt als äußerst kunstlos formuliert. Es gibt keine Briefe, keine Tagebücher, keine Werknotizen - nur eine klaffende biografische Lücke von sieben Jahren: Was der junge Mann in den Jahren zwischen 1585 und 1592 tat, wo er sich aufhielt, womit er sein Geld verdiente, ist vollkommen ungeklärt. Und der Tod des William Shakespeare, geboren in Stratford-upon-Avon, habe, so Twain, in dessen Heimatstadt keinerlei Aufsehen erregt.
War also Shakespeare nur der Strohmann für einen Autor, der als solcher nicht in die Öffentlichkeit treten durfte? War das "wahre“ Genie ein Adeliger, der sich lustvoll in die Niederungen des Volkstümlichen, in die rauen Welten des Theaters begab? War es Sir Francis Bacon (1561-1626), Philosoph, Wissenschafter, Staatsmann und Jurist, der bei Queen Elizabeth I. in Ungnade gefallen war? War "Shakespeare“ der Deckname eines Autorenkollektivs, an dem Edmund Spenser (1552-1599), Autor der "Feenkönigin“, und der Seefahrer Walter Raleigh (1552/54-1618) beteiligt waren? Hat gar der Dramatiker Christopher Marlowe ("Edward II.“) seinen gewaltsamen Tod 1593 nur vorgetäuscht, um anschließend camoufliert als "William Shakespeare“ Meisterwerke hervorbringen zu können? An Edward de Vere (1550-1604), den 17. Earl von Oxford am Hofe der Königin, glaubt heute vor allem Hollywood: In Roland Emmerichs Film "Anonymous“ (2011) ist William Shakespeare nur ein eitler Dummkopf, ein infantiler Schauspieler, der sich aus Geldgier mit fremden Federn schmückt.
Der Shakespeare-Zweifler Mark Twain dachte jedenfalls schon 1909 darüber nach, wie man 300 Jahre später den großen Umstrittenen sehen werde: "Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob Shakespeare vor dem Jahr 2209 sein Podest wird räumen müssen. Bedenken gegenüber einer heftig geliebten und gut erhaltenen Stoffpuppe haben sich niemals schnell entwickelt. Es ist ein sehr langsamer Prozess. Ein paar tausend Jahre hat es gedauert, unser fabelhaftes Geschlecht - all seine herausragenden Geister eingeschlossen - davon zu überzeugen, dass es so etwas wie Hexen nicht gibt, dass es so etwas wie einen Teufel nicht gibt.“
Weltstar
Das Misstrauen hat William Shakespeares Weltgeltung in den vergangenen vier Jahrhunderten nicht geschmälert; er ist bis heute der weltweit meistgespielte Dramatiker. Dabei stammte er aus der englischen Provinz, kam als drittes von acht Kindern zur Welt, als Handwerkersohn ohne nennenswerte Bildung. In den 1580er-Jahren verabschiedete er sich nach London, Richtung Wohlstand, verdingte sich als Mime und reüssierte als Kaufmann - er handelte mit Immobilien und war am legendären Globe Theatre auch selbst beteiligt. Als Schauspieler trat er offenbar gern in seinen eigenen Stücken auf. Als Autor war er stärker, auch wenn seine Dramaturgien bisweilen nicht ganz konsistent sind und sich oft, wenn man genau hinschaut, absurde kleine Fehlleistungen darin finden: Aber die Mysterien seiner charismatischen Figuren, die ungeheure Ambivalenz und Vitalität dieser Charaktere, die in Vers und Prosa ihr Schicksal besprechen, bespotten und durchleiden, haben den Test der Zeit intakt überstanden.
Marktfaktor
Allein die 1960 gegründete Royal Shakespeare Company verkauft in ihren Theatern in London, Newcastle und Stratford-upon-Avon jährlich mehr als eine halbe Million Tickets. Und der Mangel an verfügbarer Information steht in markantem Gegensatz zur globalen Publikationsflut: Fast 135.000 Bücher listet etwa Amazon.com unter dem Stichwort "Shakespeare“ auf. Hunderte Ausstellungen, Festivals und Jubiläumsveranstaltungen werden dieser Tage eröffnet. In der Londoner British Library etwa analysiert man anhand klassischer Beispiele die Veränderungen in der Shakespeare-Theaterpraxis, und entlang der Themse zeigt das Globe Theatre der Öffentlichkeit an diesem Wochenende (23. und 24. April) 37 eigens angefertigte Kurzfilme - zu jedem Stück einen -, die an die vom Autor einst imaginierten Dramenschauplätze führen.
Wortschatz
Shakespeares 37 erhaltene Dramen sind aus exakt 835.997 Wörtern gefertigt, die sich auf über 1000 Haupt- und Nebenfiguren verteilen. Stolze 3000 Begriffe habe der Dichter eigenhändig in die englische Sprache eingeführt, wird im Oxford English Dictionary festgehalten. Und sein aktiver Wortschatz habe zwischen 17.000 und 29.000 Wörtern umfasst, war somit mindestens doppelt so groß wie jener eines durchschnittlich begabter Rhetorikers. Übrigens wird nur die Bibel im Englischen häufiger zitiert als die Werke William Shakespeares.
Verlorenes
In lediglich einem Vierteljahrhundert, zwischen 1589 und 1613, entstand William Shakespeares ausuferndes Gesamtwerk. Neben den 14 Komödien, elf Historiendramen und 12 Tragödien, die den Kanon seines Theaterschaffens bilden, finden sich Kollaborationen mit anderen Autoren - und wohl auch verlorene Stücke: "Cardenio“ (1613), angeblich basierend auf einer Episode aus Miguel de Cervantes’ "Don Quijote“ (siehe auch Kasten S. 92/93), wird Shakespeare und John Fletcher zugeschrieben, und der Titel "Love’s Labours Won“ taucht in mehreren zeitgenössischen Werklisten auf, könnte aber auch nur der Alternativname einer existierenden Shakespeare-Komödie sein.
Quellen
Nicht einmal die Schreibweise seines Namens ist gesichert. Mehr als 80 Variationen verzeichnen die Quellen, neben "William Shakspere“ tauchen auch exotischere Anreden oder Signaturen wie "Shappere“, Shaxberd“, "Willm Shaksp“ und "Wm Shakspe“ auf. Es findet sich kein Beleg dafür, dass der Mann selbst je mit "William Shakespeare“ unterzeichnet hätte. Auch der Wortlaut seiner Dramen ist im Detail ungewiss: Es gab kein Copyright in Shakespeares Ära, der Handel mit kopierten Stücken blühte. So gab es zu jedem Werk zahllose Varianten, in dem Erlauschtes und Abgeschriebenes sich oft mit Fehlerhaftem und Erfundenem mischten. Die erste Gesamtausgabe der Werke Shakespeares erschien sieben Jahre nach seinem Tod, in der von zwei Schauspielern (John Heminges und Henry Condell) verantworteten "First Folio“-Fassung von 1623. Nur noch rund 40 komplette Folios existieren heute noch. Billig produzierte Einzelausgaben bestimmter Werke - die "Quartos“ - erschienen bereits zu Lebzeiten des Autors.
Frauen
Hamlet ist mit 1495 Textzeilen die gesprächigste Figur im Shakespeare-Dramenkosmos. (Das erste und kürzeste Stück des Autors, "Die Komödie der Irrungen“, hat kaum mehr Volumen als Hamlets Monologe, nämlich 1770 Zeilen.) Zum Vergleich: Die arme, ihm anvertraute Ophelia muss sich nicht nur ertränken, sie hat auch davor nicht mehr als 173 Zeilen abzuliefern. Es wäre somit wohl eher vermessen, Shakespeare einen Feministen zu nennen. Männer stehen bei ihm im Zentrum der Handlung, sie sind zudem meist titelgebend. Lady Macbeth mag zwar eine der schillerndsten Schurkinnen der Dramenliteratur sein, aber spannender als das Frauenbild bei Shakespeare ist seine Vorliebe, androgyne Figuren zu entwerfen und Geschlechterrollen zu hinterfragen. In "Was ihr wollt“ und "Wie es euch gefällt“ tauschen Männer und Frauen zunächst nur die Kleider, aber dabei geraten auch ihre scheinbar so fest gezimmerten Identitäten ins Taumeln. Was heißt es denn überhaupt, eine Frau zu sein? Was ist erlernt, was gesellschaftlich verordnet, was frei gewählt? So leichtfüßig Shakespeares Komödien oft wirken, so tiefgreifend sind sie doch in ihrer Skepsis, was Geschlechtertrennung und Rollenzuschreibungen betrifft. Insofern war Shakespeare einer der ersten Autoren, der - wie man heute sagen würde - gender-fluide Positionen auslotete. Selbst wenn sich die Dinge am Ende seiner Stücke meist wieder einer gesellschaftlich fixierten Geschlechternorm einzupendeln scheinen, eine tief sitzende Irritation bleibt doch. Zu Shakespeares Zeiten war das Feld des Sexus sogar noch komplizierter, wurden doch sämtliche Rollen von Männern gespielt - und bereits für diese geschrieben. Denn Frauen und Mädchen war es bis ins späte 17. Jahrhundert verboten, eine Theaterbühne zu betreten.
Ehe
Besonders glücklich kann Shakespeares Ehe nicht gewesen sein. In seinem Testament hinterließ er sein nahezu gesamtes Eigentum der Tochter Susanna, seiner Frau dagegen nichts als sein "zweitbestes Bett“ (immerhin inklusive der Leintücher und Bezüge). Tatsächlich findet sich auch in seinen Werken vom gedeihlichen häuslichen Zusammenleben der Männer und Frauen keine Spur. Am 23. April 1616 starb William Shakespeare, an seinem 52. Geburtstag - allerdings auch dies nur höchstwahrscheinlich, denn dazu liegt ebenfalls kein Dokument vor. Die aktenkundige Bestattung des Barden fand am 25. April in der Holy Trinity Church in Stratford-upon-Avon statt. Und in jener Zeit war es üblich, Verstorbene zwei Tage nach ihrem Ableben zu beerdigen.
Suizid
Der Freitod spielt nicht nur in "Romeo und Julia“, in "Macbeth“ und, mit dem Doppelsuizid von Cassius und Brutus, auch in "Julius Caesar“ eine entscheidende Rolle in Shakespeares finsterem Schaffen. Insgesamt 13 Selbstmorde verzeichnet sein Gesamtwerk.
Psychopathologie
Würde Shakespeare heute leben, er wäre in Hollywood wohl sehr gefragt: Kein Autor versteht die Psychopathologie besser als er. Der Begriff "Psychopath“ wurde zwar nicht vor 1941 geprägt, und der gebildete Kannibale Hannibal Lecter begann erst in den 1980er-Jahren die Leinwand unsicher zu machen. Shakespeare aber erkannte schon im 17. Jahrhundert, was an solchen Figuren so anziehend ist: Wir lieben sie, weil sie kultiviert, klug und charmant sind, und wir fürchten sie, weil sie manipulativ und kaltblütig sind. Zuneigung und Abscheu sind schwer voneinander zu trennen. Diese emotionale Verwirrung im Zuschauer auszulösen, erfordert Empathie mit dem menschlichen Abgrund, die Shakespeare bereits beherrschte, als es das Wort "Psychologie“ noch gar nicht gab. Sein Richard III. ist einer der frühesten und berühmtesten Soziopathen der Dramenliteratur, eine Art "English Psycho“: König Richard entscheidet sich bewusst für das Böse, inszeniert seine Morde und Intrigen wie ein moderner Regisseur und hat teuflische Freude daran, Menschen zu manipulieren. Seine Worte sind schärfer als jedes Schwert, seine Finten grausamer als der Tod: Er macht der Witwe jenes Mannes, den er ermordet hat, während des Trauerzugs einen Heiratsantrag. Von monströsen Verführern dieses Zuschnitts träumt eben auch Hollywood. Komplexer, abgründiger, zeitgemäßer geht es nicht.