Interview

Wim Wenders über Anselm Kiefer: „Bin ich der Neofaschist? Bist du es?“

Gleich zwei neue Werke des deutschen Regisseurs Wim Wenders hat das morgen startende Filmfestival Viennale im Programm. Im profil-Gespräch erzählt er von der langen Reise, die zu seinem 3D-Film über den Künstler Anselm Kiefer geführt hat.

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Im deutschen Trümmerjahr 1945 wurden sie geboren, der eine in Donaueschingen, der andere in Düsseldorf. Und beide fanden Wege aus der Asche: Der eine steht seit Jahren in den Top-Ten-Listen der bedeutendsten Menschen in der Bildenden Kunst, der andere auf den Gästelisten aller wesentlichen Filmfestivals  – und er besitzt so gut wie aller großen Kinopreise, nur ein Oscar fehlt ihm noch. Von einem Gipfeltreffen darf man daher sprechen, wenn der deutsche Maler und Bildhauer Anselm Kiefer, der seit 2018 übrigens auch über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügt, sich von dem Regisseur Wim Wenders („Paris, Texas“, „Buena Vista Social Club“) filmisch porträtieren lässt. Tatsächlich ist „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ (Österreich-Kinostart: 27. Oktober) eine alles andere als konventionelle Kunst-Doku geworden: ein in gewaltigen 3D-Bildwelten angelegtes, mythisch raunendes Kino-Experiment, das bei aller Pathos- und Formenspielerei auch informativ bleibt, die pyrotechnischen Arbeitsweisen und weitläufigen Atelierräume Kiefers ebenso in den Blick nimmt wie dessen unwegsame Laufbahn. Wenders’ „Anselm“ ist eine Fantasie, eine filmische Installation über die mit der Aura des Überlebensgroßen spielenden Kunstexistenz Kiefers.

Wiens internationales Filmfestival Viennale, das morgen im Gartenbaukino eröffnet wird, wird Wim Wenders wegen Jury-Pflichten in Tokio nicht besuchen können, obwohl zwischen 22. und 25. Oktober gleich zwei seiner Regiearbeiten, die beide im vergangenen Mai in Cannes zur Uraufführung kamen, das Programm schmücken: Neben „Anselm“ zeigt man den in Japan entstandenen, stilistisch ganz anders gelagerten Spielfilm „Perfect Days“ – die wunderbar simple, um den großen Schauspieler Kōji Yakusho gebaute Erzählung von den Alltagsritualen eines Toilettenreinigers in Tokio. In einem ausführlichen profil-Gespräch gibt der Regisseur nun Auskunft über seine Inszenierungstaktiken und über seinen Blick auf das Leben, das Werk und die Provokationsstrategien des Künstlers Anselm Kiefer.

Wie kam es zur Kooperation mit Anselm Kiefer? Kannten Sie ihn lange vor den Dreharbeiten?
Wenders
Ich erinnere mich an den Tag unseres Kennenlernens genau. Anselm hatte seinen Auftritt, fast dramatisch. Ich saß in meiner Berliner Kantine, um die Ecke meines Büros, im „Exil“: In Ossi Wieners Restaurant gab es gute österreichische Küche, einen großartigen Tafelspitz, hervorragende Weine und noch bessere Musik in Form von Jazz-Schallplatten. Es war ein toller Ort, sehr verraucht zwar, aber das wurde damals ja als angenehm empfunden. Ich hatte da meinen Tisch, an dem ich immer saß. Und eines Abends trat ein Mann durch die Tür, der da nicht hingehörte, der noch nie da war. Er blickte sich um wie ein Fremder, paffte mit dicker Zigarre in den Raum. An meinem Tisch war der einzige Platz frei. Er kam schnurstracks zu mir.
Erkannten Sie einander?
Wenders
Ja, so kamen wir ins Gespräch; wir quatschten lange und beschlossen am Ende der Nacht: Das machen wir morgen weiter. Dann waren wir praktisch 14 Tage lang jeden Abend dort verabredet, während er tagsüber in der Nationalgalerie seine bislang größte deutsche Ausstellung aufbaute. Wir kamen drauf, dass er ein Maler war, der gerne Filme machen würde, und ich ein Filmemacher war, der gerne Maler geworden wäre. So entstand der Gedanke, dass wir uns zusammentun sollten.
Das muss 1991 gewesen sein, damals fand die Kiefer-Schau in der Berliner Nationalgalerie statt.
Wenders 
Haargenau. Es war im Frühjahr 1991.
Das ergibt für Ihren Film eine Vorlaufzeit von über 30 Jahren. Wieso hat seine Entstehung so lange gedauert?
Wenders 
Wir verloren uns wieder aus den Augen, nach der Enttäuschung, die diese große Ausstellung für ihn darstellte. Er war aus Amerika als großer Kunstheld zurückgekehrt, als der bedeutendste Maler des 20. Jahrhunderts. Danach wurde er von der deutschen Kritik in den Boden gerammt. Ich fand das unfassbar angesichts dieser großartigen Ausstellung. Anselm war wie vom Donner gerührt. Er hatte nicht erwartet, auf so viel Unverständnis oder Widerstand zu stoßen. Er zog nach Südfrankreich. So kamen wir einander abhanden. 2019 rief er mich aus dem Nichts an und meinte: „Wim, du warst noch nie in Barjac.“ Und das stimmte, ich war nie in seinem südfranzösischen Atelier gewesen. Ich sollte mir ansehen, was er auf dem Gelände einer alten Seidenfabrik aufgebaut hatte. Er führte mich auf sein Anwesen, drückte mir einen Plan in die Hand und ließ mich alleine wandern, an seinen schiefen Hochhäusern vorbei, durch alle unterirdischen Zonen. Ich verlor mich dort. Abends wankte ich erschöpft ins Haus, warf mich in einen Sessel. Anselm hatte schon einen Rotwein geöffnet. Und ich sagte zu ihm: „Okay, Anselm, it’s now or never.“ Er meinte nur, er freue sich, dass ich das auch so sehe. Wenn wir noch lange warten, sagte er, werde er zu alt, dann vergesse er alles Wesentliche.
Wenders 
Ist Ihnen der Widerwillen, den Kiefer einst erregte, denn unerklärlich? Er arbeitete doch stark mit Provokationen, mit den Überwältigungspotenzialen von deutscher Mythologie und Faschismusgeschichte. Legte er es nicht auf Widerstand an?
Wenders 
Anselm ist durchaus einer, der Konflikt schätzt. Weil er findet, dass die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit provoziert werden muss. Sich in die Klamotten seines Onkels zu stellen und mit dem Hitlergruß durch Europa zu ziehen, das war 1969 eine sehr gewagte Tat. Heute könnte das jeder Komiker machen. Damals war es ein Affront sondergleichen. Nur Joseph Beuys stellte sich vor ihn und erklärte: Kiefer macht da etwas, das ihr noch nicht versteht, das man erst in der Zukunft begreifen wird. Mit der Behauptung, das sei ein Neofaschist, war man auf dem Holzweg.
Kiefer ließ die Dinge doch absichtlich in der Schwebe. Er verweigerte in Interviews, sich zum Antifaschismus zu bekennen – weil es ihm zu einfach, zu vermessen erschien. Sie haben an Kiefers Kunst nie etwas Reaktionäres festgestellt?
Wenders 
In dem TV-Interview, das Sie zitieren, sagte er sinngemäß: „Woher weiß ich, was ich damals gewesen wäre?“ Heute gibt es nur noch Antifaschisten, alle wären damals ganz sicher Widerständler gewesen. Aber wenn man sich umschaut, sieht man ja, wie viel Zulauf das heute wieder hat. Anselm zwang sein Publikum zum Nachdenken über sich selbst. Man kann in seiner Kunst etwas Unreflektiertes sehen – oder auch etwas höchst Reflektiertes. An diesem Zwiespalt wird die historische Dimension am deutlichsten sichtbar. Hätte Kiefer sich schlicht vom Faschismusvorwurf distanziert, seine Provokation wäre ins Leere gelaufen. So aber teilte seine Kunst mit: Was ist das denn hier? Bin ich der Neofaschist? Bist du es? Waren es nicht deine Eltern? Und warum ist das Nachdenken darüber tabu? Anselm setzte das sehr klug ein, es war aber natürlich auch eine Gratwanderung.
Die unglaublichen Ateliers Kiefers waren wohl ein Grund für Sie, diesen Film in 3D zu drehen. Das sind Fantasy-Räume wie aus einem Marvel-Film. Ging es Ihnen vor allem um die Schauplätze?
Wenders 
Als ich in Barjac als einsamer Wanderer durch eine Welt zog, in der alles aus den üblichen Proportionen gekippt erscheint, fühlte ich mich wie Alice im Wunderland. Um diese Erfahrung im Kino weitergeben zu können, gab es keine andere Chance als 3D. Eine normale Kinoleinwand ist flach. Das ist, als blätterte man in einem Kunstbuch. Aber was ich da erlebte, ging über alles hinaus, was ich je gesehen hatte. Es war wirklich eine Erfahrung. Und man sieht in 3D eben erheblich mehr, man hat diesen Durchblick in die Tiefe, verarbeitet ein Vielfaches an Information.
Kiefers Gigantismus muss man mit dem Kino standhalten.
Wenders 
Das Kino kann das, es hält viel aus. Für mich bestand die wichtigste Aufgabe darin, diese unfassbaren Erlebnisräume so darzustellen, dass man sein Publikum alert hält. Die klassische Filmlänge von 90 Minuten ist perfekt. Man braucht eine gewisse Ökonomie, um die Information, der man ausgesetzt ist, auch erfassen zu können.
„Anselm“ ist randvoll mit abenteuerlichen Ideen und dem Schutt der Menschenexistenz.
Wenders 
Anselm ist ja einer, der meint, allem Existierenden mit Malerei begegnen zu können. Nichts entzieht sich seiner Kunst: Das Weltall und die großen Mythen berücksichtigt er so sehr wie das Allerkleinste, den Mikrokosmos, die Atome. Kiefer ist der letzte Allgemeinwissenschaftler, einer, der alles zusammen denken will.
Es ist ein stark inszenierter Film, in dem Sie neben dem Selbstdarsteller Kiefer auch dessen Sohn Daniel als junge Version seines Vaters sowie Ihren Großneffen Anton Wenders auftreten lassen.
Wenders 
Als Anselm die Lunte gerochen hatte, dass ich vorhatte, mit seinem Sohn zu drehen, um in Odenwald seine Vergangenheit aufzuspüren, wo er als namenloser Künstler zehn Jahre lang sein Werk aufbaute, dachte er: Der Wenders spinnt. Daniel sei doch kein Schauspieler. Anselm war dann sehr überrascht und auch beeindruckt.
Er spielt seinen Vater erstaunlich gelassen.
Wenders 
Ja, denn er hatte einen großen Vorteil: Er saß als Kind unter Anselms Staffelei und beobachtete ihn genau; er konnte ihn früh imitieren, etwa wie er stets ein Auge schloss beim Malen. Daniel kannte alle Handgriffe seines Vaters. Ich musste ihm nichts erklären.
Sie sind nahezu gleich alt wie Anselm Kiefer, aber kulturell ganz anders sozialisiert. Sie waren früh von amerikanischer und japanischer Kultur geprägt, er monomanisch von der deutschen. Liefen Sie nicht vor allem, was Kiefer repräsentiert, stets weg, um anderes zu erleben und zu bearbeiten als bloß den deutschen Mythennebel?
Wenders 
Ich ging 1968 auf die Straße, aber nicht als Antifaschist, sondern weil ich gegen den Vietnamkrieg war. Damit hatte Anselm nichts am Hut. Ihn interessierte die neofaschistische Geschichte der Bundesrepublik. Der Antifaschismus war für die Linken 1968 kein Thema. Gegen die Faschisten im deutschen Verwaltungsapparat demonstrierten wir nicht. Insofern wuchsen wir sehr unterschiedlich auf. Ich befasste mich viel mehr mit amerikanischer Musik, Malerei, Literatur. Aber auf Umwegen haben sich unsere Wege doch gekreuzt. Auch ich wurde, viel später als Anselm, zu einem, der sich mit Deutschland auseinandersetzte, nachdem der amerikanische Traum sich ins Nichts aufgelöst hatte.
Ihre künstlerische Maxime war es doch stets, das „Andere“ zu suchen. Wenn Sie in „Perfect Days“ von der meditativen Existenz eines Tokioter Toilettenputzers erzählen, hat das mit Ihrem Interesse an der Erforschung des nicht-westlichen Alltags zu tun.
Wenders 
Absolut, so wie auch Anselm sich in seinen späteren Werken immer weniger um Deutschland geschert hat und Mythologien fern der deutschen erforscht hat. Er hat seinen Blick geweitet, ließ die deutsche Geschichte hinter sich.
Die Form Ihres Kiefer-Films ist vielfältig – und mysteriös: Im Sound-Design findet sich viel Gerauntes, Geflüstertes, Celan-Gedichte, Legendensplitter. Wie entstand das?
Wenders 
Ich wollte auf keinen Fall als Erzähler, schon gar nicht als Meinungsmacher auftreten, das wäre langweilig gewesen: zwei alte weiße Männer aus Deutschland, mit demselben Geburtsjahr und derselben Kindheitserfahrung, das hätte sich verdoppelt. Das Werk sollte für sich sprechen, dafür brauchte ich aber Verbündete, insofern haben mich Anselms Frauenfiguren sehr interessiert. Die stehen als Statuen im Wald, und in unzähligen Bildern sind sie wie Geisterwesen präsent: die Figur der Lilith etwa, die ihn sehr bewegt hat, als erste selbstbestimmte Frau, die sich ihrem Mann nicht unterwerfen wollte.
In diesen Frauen sahen Sie Miterzählerinnen?
Wenders 
Ja, ich gab ihnen Stimmen. Zunächst klang das nach zu viel Meinung, zu viel antiker Kulturbeflissenheit. Das ist in Anselms Arbeit subtiler, weniger offensichtlich. Also verwandelte ich das Material in Erzählfragmente. Ich erkannte, dass es reichte, wenn man manches nur aufschnappen kann. So wurde diese Frauenschaft eine stark gegenwärtige Kraft – und der menschliche Urschlamm der Mythologie kam ein bisschen deutlicher in den Film.
Kiefers Kunstfabriken erscheinen wie gigantische Kinderspielplätze, denen man die Farben entzogen hat. Er schaffte sich künstliche Welten, in denen er als einsamer Guru, wie ein Demiurg durch seine Geisterstädte wandelt. Was trieb ihn dazu, sich solche Orte zu errichten?
Wenders 
Die Erschaffung von Gegenwelten ist der große Impetus der Kunst. Die Türme, die er in Barjac errichtet hat, haben auch mythologische Ursprünge, im Turmbau zu Babel etwa. Es ist aber auch eine Reminiszenz an die Landschaften, in denen Anselm aufgewachsen ist: in Ruinenstädten, in denen oft lediglich die Schornsteintürme von Häusern übrig waren. So sah auch meine Kindheit aus. Das hatte aber seine eigene Schönheit, denn darin verbarg sich ein Neubeginn, eine Zukunft. Was man sah, konnte ja nur verschwinden. In Ruinen verbirgt sich auch eine Utopie. Anselm hat mit diesen schiefen, einsturzgefährdeten Türmen etwas verarbeitet: das Bild einer neuen Welt, die man sich nur selbst ausmalen kann. Seine Provokation besteht darin, sich eine andere Zukunft vorzustellen.
Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.