Zäsur und Zensur: Die Kunstszene und der Nahostkrieg
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Die einen brüllen nieder, die anderen schweigen demonstrativ. Nur reden will über die Situation kaum noch jemand, als hätte es ohnehin keinen Sinn mehr. Die Meinungen sind besetzt, die Positionen unversöhnlich. Man spricht einander das Recht auf die Interpretation der Ereignisse ab.
So geht es seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und dem prolongierten Gegenschlag der israelischen Regierung ausgerechnet im Feld der Kultur zu. Wo man sich sonst gern der eigenen Reflexionsfähigkeit und des produktiven Umgangs mit weltpolitischen Fragen rühmt. Genau dort hat nun ein Gesinnungskrieg eingesetzt, in dem boykottiert und ausgeladen, gegenseitig mundtot gemacht wird, ein Stellvertreterkrieg um die Deutungshoheit in der Frage, wie die Gewalt in Gaza, ausgelöst durch einen islamistischen Terroranschlag und perpetuiert von den Streitkräften eines ultranationalistisch regierten Staates, zu beurteilen sei.
Propalästinensische Aktivismusgruppen schreien gegen unliebsame Diskussionen an, stören Lesungen, besetzen Kunstorte, die im Verdacht stehen, sich mit Israel zu solidarisieren; andererseits werden vielerorts palästinensische Schriftstellerinnen und Intellektuelle sicherheitshalber ausgeladen und mediale Hassstürme gegen Kunstschaffende mobilisiert, weil diese irgendwann die falschen Petitionen unterschrieben haben oder mit der BDS-Bewegung sympathisieren, die zu „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ gegen den Staat Israel aufruft. Bands sagen ihre Teilnahme an deutschen Musikfestivals ab, weil sie gegen die „palästinafeindliche“ Politik des Bundestags protestieren wollen.
Dazwischen regiert die – nicht ganz unbegründete – Angst der Veranstalter, die aber auch zur Erstickung der Debatten führt: Der Wiener Auftritt der US-deutschen Schriftstellerin Deborah Feldman („Unorthodox“), die zu den schärfsten jüdischen Kritikerinnen der israelischen Regierung zählt, wurde im vergangenen Dezember seitens des Gartenbaukinos wegen „potenzieller Konfliktherde“ abgesagt. „In der aktuellen Stimmung – global wie lokal“ – sehe man es „als schwierig bis unmöglich an, die Sicherheit und den Mehrwert einer solchen Veranstaltung zu gewährleisten“. Feldman spricht inzwischen von einer „Massenhysterie“, in der „absurderweise sogar Juden des Antisemitismus bezichtigt“ werden.
Der politische Aktivismus zur Destabilisierung Israels treibt einstweilen bizarre Blüten. Und nicht wenige sind bereit, dafür ihren guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Die US-Theoretikerin Judith Butler, als queer-feministische Postkolonial-Denkerin und Pionierin der Gender Studies berühmt, hat das Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 unlängst öffentlich als „bewaffneten Widerstand“ verharmlost, zu einem legitimen Freiheitskampf umgedeutet. Was da geschehen sei, „war kein Terroranschlag und kein antisemitischer Angriff“, sondern einer „gegen Israelis“, einer, der ihr, Butler, wohlgemerkt „nicht gefallen“ habe; aber es sei „ein Aufstand gegen den Zustand der Unterwerfung, gegen einen gewalttätigen Staatsapparat“ gewesen. Und Beweise dafür, dass die Hamas Frauen vergewaltigt, Babys hingerichtet habe, müssten erst noch erbracht werden, fügte Butler an.
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz zeigte sich darüber „fassungslos“. Butlers Worte seien „die antifeministischsten Aussagen, die ich je gehört habe“, und dies von einer Ikone der Queer-Bewegung und „angesichts der massiven sexuellen Gewalt, die israelische Frauen durch Hamas-Kämpfer erlitten haben, angesichts der Berichte der Presse, der Anwälte, der Ärzte und NGOs, die diese Missbräuche dokumentierten, angesichts der verbreiteten Bilder einer getöteten jungen Frau, die unter den Gesängen der Menge in den Straßen von Gaza präsentiert wurde“. Tatsächlich spricht so etwas wie Verblendung und Wirklichkeitsverweigerung aus manchen aktuellen Statements zur Lage im Nahen Osten.
Zu den wenigen, die gegenwärtig noch eine gegenseitige Verständigung fordern, gehört der israelisch-deutsche Historiker Meron Mendel, Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Er plädiert für eine Kultur der Kritik, nicht des Verbots. Das Boykottieren und Gegenboykottieren führt, wie die vergangenen Monate gezeigt haben, ins Leere. Es gehe um einen „moralischen Kompass“, sagte Mendel vor wenigen Tagen, zu Besuch in Wien bei der linken „People’s Summit“-Tagung, wo er in einer von Ruhe und Verständnis getragenen Podiumsdiskussion mit dem palästinensischen Künstler und Aktivisten Osama Zatar feststellte: Er sei immer „für die progressiven Kräfte, für Gerechtigkeit und das Miteinander, unabhängig von Nationalität oder auf welcher Seite der Grenze man lebt.“ Die Spaltung innerhalb der Linken betrachtet Mendel mit Besorgnis. Wenn eine linke Galionsfigur wie Butler eine ihr eigenes Volk unterdrückende Terrororganisation als „Teil der Globalen Linken“ bezeichne, sei dies ein „absoluter moralischer Bankrott“; denn gerade auch jüdische Frauen auszunehmen von der feministischen Theorie, sei eben „keine linke Position, sondern ein moralisches Vertigo“.
Die Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit scharf israelkritischer Positionen sind alles andere als neu; allein in den vergangenen vier Jahren erregte dieses Thema viel mediale Aufmerksamkeit – von der Antisemitismus-Debatte um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, der 2020 wegen seiner Kritik an Israel ins Kreuzfeuer geriet, bis zu den weitreichenden Verwerfungen um indonesische Judenhass-Cartoons während der Documenta in Kassel zwei Jahre später.
Eine heikle Frage steht hinter all diesen Debatten: An welchen Punkten gehen die legitime Kritik an Israels Regierung, am Zionismus, und auch die Forderung nach sofortiger Einstellung aller kriegerischen Handlungen in Gaza in Antisemitismus über? Der Weg in diesen Vorwurf führt über einen schmalen Grat, denn oft erscheinen die Argumente in diesem alarmistischen Krieg der Begriffe viel zu leichtfertig gewählt. Ist Israel ein „imperialistischer Apartheidstaat“, wie viele derzeit behaupten? Wird gerade ein „Genozid“ in Gaza begangen?
Für eine Abrüstung der Begriffe tritt Meron Mendel ein: In seinem Buch, das er Anfang 2023 „Über Israel reden“ genannt hat, gebe es einen Satz, der viele Leute provoziert habe: „Palästinenser und Israelis haben den gleichen Sinn für Humor – und jene, die am leidenschaftlichsten für unsere Anliegen kämpfen, haben nicht die leiseste Ahnung von der Situation vor Ort.“ Diesen Leuten gehe es „um Selbstbestätigung, nur um das Gefühl, recht zu haben, hundertprozentig auf der richtigen Seite zu stehen. Alles, was ihnen nicht in den Kram passt, wird ausgelassen, ignoriert, aussortiert. Solche Freunde, die uns bloß instrumentalisieren, brauchen wir nicht. Wir brauchen Freunde, die nicht denkfaul sind, die an die Leute vor Ort denken.“ Wer seien denn die Menschen, die am 7. Oktober ermordet wurden, fragt Mendel: Es seien Leute wie Vivian Silver, eine Ikone der israelischen Friedensbewegung, die mit ihrer Gruppe „Transport to Recovery“ zahllose Menschen aus dem Westjordanland und Gaza zur medizinischen Behandlung nach Israel gebracht habe. „Wir brauchen einen differenzierten, menschenrechtsorientierten Blick auf diese Region.“ Einen Blick wie jenen Vivian Silvers.
Doch davon ist die internationale Kunst- und Kulturszene weit entfernt. Wir seien „Zeugen einer immensen Simplifizierung, gerade im Kulturbereich“, meint der Wiener Schriftsteller Doron Rabinovici. In der Kunst sei es oft so, dass Böses und Gutes stark vereinfacht werden, „das mag gute Geschichten ergeben“. Eine nennenswerte Linke sei kaum noch vorhanden, sagt Rabinovici. „Sie hat viel an Spielraum verloren. Sie existiert kaum noch als Vision, funktioniert nur noch als Ressentiment. Dieses linke Ressentiment hat es geschafft, in die gesellschaftliche Mitte zu wandern. Nur im Feld der Kunst kann eine linke Vision noch Geltung beanspruchen. Im ökonomischen Feld und in den Machtverhältnissen der Politik hat sie kaum noch etwas zu sagen. In der Kunst hat sie Narrenfreiheit.“
Aber wie genau äußert sich diese Freiheit im kulturellen Feld? Eine Rundschau in fünf Fallstudien.
Fall eins: Die Wiener Festwochen
Erst unlängst hat sich der neue Intendant der (am 17. Mai startenden) Wiener Festwochen, der Regisseur Milo Rau, mit dem Eklat um seine Einladung des griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis ohne größere Not viel öffentliches Misstrauen eingehandelt. Nun hat er angekündigt, sein Festival für ein Kunstprojekt zu nutzen, für das er die „Freie Republik Wien“ ausrufen will. Rau hat, neben vielen anderen, die französische Literaturnobelpreisträgerin und BDS-Unterstützerin Annie Ernaux, die das Israel-freundliche Deutschland boykottieren will, und den griechischen Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis – er unterzeichnete die Petition gegen den Israel-Pavillon der Biennale (siehe Fall zwei) und weigert sich standhaft, die Hamas zu verurteilen – in den „Rat der Republik“ berufen.
Die Wiener ÖVP tobte, stellte in Aussicht, über eine Rückforderung der Festwochen-Subventionen reden zu wollen. Das Boulevardmedium oe24 nutzte die Affäre auf seine Weise und titelte ohne Rücksicht auf Verluste: erst „Antisemitin als Star der Wiener Festwochen“, dann „Hamas-Fan als ‚Star‘ der Wiener Festwochen eingeladen“. Er teile nicht alle der Ansichten Ernaux’“, sagt Rau nun, „aber ihre symbolische Teilnahme an unserem Projekt“ stehe für ihn außer Frage. Persönlich werde sie, wie Varoufakis, übrigens nicht nach Wien kommen und für Israelkritik auch kein Podium erhalten. Aber Ernaux aufgrund ihrer „Kritik gewisser Aspekte der israelischen Politik als ‚Antisemitin‘ zu bezeichnen, ist so falsch und absurd, als würde man sie aufgrund ihrer Kritik der iranischen Regierung als ‚Islamhasserin‘ oder aufgrund der Kritik ihrer eigenen Regierung als ‚frankophob‘ bezeichnen.“ Mit solchen Aktionen entleere man den Begriff des Antisemitismus.
Nicht um das Canceln gehe es ihm, erklärt Milo Rau noch, sondern darum, die Widersprüche unserer Zeit auszuhalten, zu debattieren, ihnen kritisch und konstruktiv gegenübertreten.
Fall zwei: Der Israel-Pavillon der Biennale in Venedig
Die in New York geborene, in Tel Aviv lebende Video- und Performance-Künstlerin Ruth Patir soll den israelischen Pavillon bei der kommenden Biennale in Venedig bespielen – mit einem langgehegten Projekt über Mutterschaft, in einer alptraumhaften Situation. Denn eine erst vor wenigen Wochen formierte, bislang anonym gebliebene Gruppe namens „Art Not Genocide Alliance“ (ANGA) hat in einem offenen Brief dazu aufgerufen, einen „Völkermord-Pavillon“ auf der am 20. April eröffnenden Kunstbiennale zu boykottieren. Israel solle von dem strahlkräftigen Kunstereignis ausgeschlossen werden, fordert ANGA, kein „Artwashing“ betrieben werden. „Die Biennale hat über Israels Gräueltaten gegen die Palästinenser geschwiegen. Wir sind entsetzt über diese Doppelmoral.“ Mehr als 23.000 Unterschriften, darunter auch die Signaturen der Künstlerin Nan Goldin, der Filmemacher Ken Loach und Pedro Costa sowie des Musikers Brian Eno, hat die antiisraelische Allianz inzwischen versammelt. Die Biennale biete einem „völkermordenden Apartheid-Staat“ eine Plattform. Einer der ANGA-Kampfslogans lautet: „Kein Tod in Venedig“. In dem Brief, der die angeblichen „Gräueltaten“ Israels über zehn Absätze wortreich beklagt, taucht der Begriff „Hamas“ nicht auf. So viel zum Vorwurf der Doppelmoral.
Ende Februar sprach Italiens Kulturminister Gennaro Sangiuliano, im Kabinett Giorgia Melonis tätig, ein Machtwort. Selbstverständlich behalte Israel, wie alle von Italien anerkannten Nationen, das Recht, seinen Pavillon zu bespielen. Man kann sich jedoch ausmalen, wie schwer es für eine feministische Künstlerin wie Ruth Patir sein muss, dem Druck von allen Seiten standzuhalten: Einerseits wird sie von einem postfaschistischen Minister zu einer Veranstaltung zugelassen, als deren Präsident neuerdings ein Rechtspopulist namens Pietrangelo Buttafuoco fungiert, andererseits soll sie gegen Zehntausende Cancel-Aufrufe bestehen. Die Künstlerin ist auf Tauchstation. Seit September 2023 hat Patir auf ihrem Instagram-Konto nichts mehr gepostet.
Man wolle „no visitors, no press, no parties“ in dem und um den israelischen Pavillon, verlautbarte ANGA vor wenigen Tagen. Laut Selbstaussage stehe ANGA „in Solidarität mit allen, die zum Schweigen gebracht, zensuriert, diszipliniert, entlassen und eingeschüchtert wurden“, weil man den Mächtigen die Wahrheit gesagt habe und für ein „freies Palästina“ einstehe. Die Allianz sieht offenbar keinen Widerspruch darin, Zensur mit Zensur zu bekämpfen.
Der russische Pavillon blieb 2022 leer, und so wird es auch heuer sein – aber nicht, weil die Biennale dies untersagt hätte, sondern weil Russland selbst seine Teilnahme zurückgezogen hatte. Polizeischutz für Israels Pavillon wird wohl nötig werden.
Fall drei: Die Filmszene – Oscar-Gala und Berlinale-Preisverleihung
Lange bevor am Ende der diesjährigen Berlinale-Preisgala vor wenigen Wochen der Goldene Bär des Festivals an die Filmemacherin Mati Diop verliehen wurde, die ihre Faust in die Höhe reckte und ihre Solidarität mit Palästina bekundete, war ein israelisch-palästinensisches Regie- und Freundesduo auf der Bühne gestanden, um die Auszeichnung für den besten Dokumentarfilm entgegenzunehmen: zwei junge Aktivisten namens Basel Adra und Yuval Abraham – der eine dokumentiert seit Jahren mit der Videokamera die gewaltsame Auflösung seines Dorfes in der Westbank, der andere schreibt als Israeli dissidente Reportagen –, die gemeinsam ausgezogen sind, um der Welt die Brutalität der israelischen Besetzer, die Zerstörungen des Militärs und der Siedler vor Augen zu führen. Adras und Abrahams Film heißt „No Other Land“, und er ist ganz schlicht, visuell roh gestaltet, aber er zeigt im Detail, wie grauenhaft das Leben entrechteter Familien in Palästina schon vor dem Krieg ablief.
Aber so dringlich gerade jetzt der Ruf nach Waffenstillstand und Mäßigung der überschießenden militärischen Aggression gegen die Zivilbevölkerung in Gaza auch ist: Die Entscheidung, auf der Bühne des Berlinale-Palasts gegen die israelische Kriegsführung zu protestieren und dabei mit keinem Wort all die Unschuldigen zu erwähnen, die am 7. Oktober 2023 in Israel dem Hamas-Terror zum Opfer gefallen sind – als hätte es diesen nie gegeben –, sorgte für nachvollziehbare Empörung; denn eine Kunstszene, die ein Ende der israelischen Gewalt fordert, ohne die Gewalt der Hamas zu verurteilen (oder überhaupt anzuerkennen), setzt sich dem Verdacht aus, ein eher einseitiges Konzept von Pazifismus zu verfolgen.
Zwei Wochen später stand der britische Regisseur Jonathan Glazer auf der Bühne des Dolby Theater in Hollywood. Zwei Oscars verlieh die Academy an sein Holocaust-Experiment „The Zone of Interest“. In seiner Dankesrede wies Glazer auf die beklemmende Gegenwärtigkeit seines Films hin, der zeige, wie weit „ganz normale“ Menschen in Sadismus und Fühllosigkeit gehen können – und geißelte das fortschreitende Blutvergießen im Nahen Osten, trauerte um „all die Opfer dieser Entmenschlichung“. Explizit benannte er auch die Inhumanität der palästinensischen Hamas, in diesen Tagen fast schon eine Seltenheit. Der einzige Weg aus der Barbarei ist die unablässige Ehrfurcht vor dem Widerstand dagegen: Glazer widmete seinen Preis daher dem Andenken an Aleksandra Bystroń-Kołodziejczyk, eine der Heldinnen von Auschwitz-Birkenau, die den Inhaftierten einst heimlich Nahrung zukommen ließ.
Natürlich bekam aber auch Glazer in den Tagen danach einen Shitstorm ab, schon weil er das Wort „Occupation“ benutzt hatte. In einem offenen Brief, unterzeichnet von fast 1000 jüdischen Filmschaffenden, hieß es, die Verwendung des Begriffs „Besatzung“ zur „Beschreibung eines indigenen jüdischen Volkes, das sein Heimatland verteidigt, verzerrt die Geschichte“. Mehr noch: Das Wort beschwöre „die schlimmsten antisemitischen Tropen“, mobilisiere „antijüdischen Hass auf der ganzen Welt“. Man sieht: Selbst das Offensichtlichste zu benennen, ruft die Fundamentalisten auf den Plan.
Fall vier: Der Eurovision Song Contest
Am 9. Mai wird die 20-jährige russisch-israelische Sängerin Eden Golan im schwedischen Malmö mit einer pathosgeladenen, aber etwas gesichtslosen Ballade in die Vorentscheidung für das am 11. Mai stattfindende Finale des Eurovision Song Contest (ESC) gehen. Der Song, mit dem Israel am ESC 2024 teilnehmen wird, heißt nun „Hurricane“. Die Vorgeschichte dazu ist kompliziert: Noch Ende Februar trug die israelische Einreichung den Titel „October Rain“. Der European Broadcast Union (EBU), die für den Gesangswettbewerb zuständig ist, war dies zu deutlich – und vor allem, gegen die Regeln des ESC, auch zu politisch. Denn der Text verwies eindeutig auf die traumatisierenden Erfahrungen vom 7. Oktober.
Es kam, wie es kommen musste: Es hagelte Boykottforderungen und Unterschriftenlisten gegen Israels Teilnahme am ESC. Die EBU verfügte, dass das Lied umgeschrieben werden müsse. So wurde aus dem Oktoberregen ein lyrisch offenerer „Hurricane“. Golan singt nun: „I’m still broken from this hurricane.“ Die Krise, die sie heraufbeschwört, ist nun so unbestimmbar, wie die Manager der Veranstaltung dies forderten. Auch wenn die Welt weiß, was tatsächlich mit diesem Tropensturm gemeint ist.
Fall fünf: Die gecancelte Autorin Joanna Chen
Wie viel Staub kann der Essay einer israelischen Friedensaktivistin aufwirbeln, die sehr persönlich darüber berichtet, wie schwer es ihr falle, nach dem 7. Oktober ihre Arbeit für palästinensische Bedürftige weiterhin zu leisten? Man glaubt es kaum, aber der in jeder Hinsicht humanistische Text der Übersetzerin und Autorin Joanna Chen sorgte vor wenigen Wochen für schwere Verwerfungen in der Online-Publikation, die ihn ursprünglich veröffentlicht hatte.
Chen, die aus dem Hebräischen und dem Arabischen übersetzt, hat ihren Text in dem kleinen, aber renommierten Kunst- und Politik-Magazin „Guernica“ veröffentlicht. Eine der Herausgeberinnen hielt es jedoch für einen Skandal, dass Chen diese „händeringende Apologie des Zionismus und des laufenden Genozids in Palästina“ schreiben durfte und kündigte, als Ausdruck ihres Protests, die ehrenamtliche Tätigkeit in der Redaktion auf. Mindestens zehn weitere Austritte folgten. Daraufhin löschten die „Guernica“-Herausgeber den Beitrag mit dem Ausdruck des „Bedauerns, ihn publiziert zu haben“. Chens Text, heißt es seitens der Ex-„Guernica“-Belegschaft, sei getragen von „weißem Kolonialismus, der sich als Gutherzigkeit maskiert“.
Man kann den inkriminierten Bericht, der den Titel „Von den Rändern einer zerbrochenen Welt“ trägt, auf archive.org finden. Und wer ihn gelesen hat, wird Probleme haben zu begreifen, was daran genau antipalästinensisch sein sollte. Laut Selbstbeschreibung sei „Guernica“ eine Non-Profit-Plattform „für Ideen zur Förderung von Gerechtigkeit, Gleichheit und bürgerschaftlichem Handeln“.
Joanna Chen erklärte der „New York Times“ inzwischen, sie glaube, dass die Kritik an ihrem Text auf einem Missverständnis beruhe; ihr Essay halte an Empathie fest in einer Zeit, „da menschlicher Anstand nicht mehr in Sicht“ sei. Ihr Fall veranschaulicht die Absurdität, dass auch (und offenbar: gerade) der Ruf einer vorbehaltlos israelkritischen Autorin nach friedlicher Koexistenz – und möglicherweise auch ihre tiefe Trauer über den Terror der Hamas – schon als Sakrileg gesehen wird.
Was also wäre aus all diesen Fällen zu lernen? Vielleicht dies: Die Doppelmoral und die Feigheit sind Geschwister. Und eine Kultur des flächendeckenden Verbots und der übelmeinenden Interpretation führt uns nicht weiter. Die Verkehrung der Verhältnisse hält an: Rechtsaußenparteien wie die AfD, Viktor Orbáns Fidesz oder Giorgia Melonis Fratelli d’Italia beteuern aktuell ihre Zuneigung zu Israel. Dies ist erklärlich: Denn dort regiert mit Ministerpräsident Netanjahu ein rechtskonservatives Bündnis, man sieht sich in seinen antimuslimischen Ressentiments bestätigt und vereint. Dagegen gilt es zu kämpfen: Der Philosoph Omri Boehm hat in der „Zeit“ die universelle Idee der Freundschaft beschworen. Das klingt naiver, als es ist. Denn es muss neben dem angeblich „bewaffneten Widerstand“ und der „Selbstverteidigung“ der Ultranationalisten ein Drittes geben, eine Möglichkeit zum Austausch auf Augenhöhe, für eine Kultur des produktiven Streits.
Noch einmal Meron Mendel, der sich sowohl gegen die Hamas, als auch gegen die aktuelle israelische Regierung ausspricht. Denn: „Die israelische Rechte und Hamas arbeiten gewissermaßen zusammen. Auf das gleiche Ziel hin.“ Netanjahu sei stets gegen den Friedensprozess gewesen, genau wie die Hamas. Die Gewalt habe man voneinander gelernt.
Was also könne man konkret tun, hier, in Europa? Dämonisierung bringe nichts. Man müsse für eine Stärkung der guten Kräfte in Palästina sorgen und für eine Schwächung der israelischen Regierung. Es gebe eine Liste israelischer Siedler, die bereits mit Einreiseverboten in manche europäische Länder und in die USA belegt sind, sagt Mendel. Deren Vermögen könnte man einfrieren, es wäre an der Zeit, dass auch Österreich und Deutschland dies erwägen. „Waffen- und Munitionslieferungen nach Israel sollte man auch überdenken, ich finde dies persönlich falsch.“ Und er empfiehlt die Anerkennung eines palästinensischen Staats, der von demokratischen oder gemäßigten Kräften geführt werde. „Eine linke Empathie ist nicht selektiv, sie gilt allen Menschen. Solidarität kann selektiv sein, Empathie nicht. Das eine ist eine politische Frage, das andere eine menschliche. Wenn ich einem leidenden Menschen meine Empathie verweigere, verliere ich meine Menschlichkeit. Deshalb bin ich zutiefst verletzt und enttäuscht von all jenen, die diese Humanität verweigern. So verlieren wir viel gemeinsamen Boden, das Urvertrauen in die Menschlichkeit. Ich verlange von jedem, der sich als links versteht, diese Empathie.“
Zwischen Jordan und Mittelmeer befinden sich neun Millionen Israelis und fünf Millionen Palästinenser. Alle sollten dort ein Existenzrecht haben, findet Mendel. „Wie sie das unter sich regulieren, solange jeder die gleichen Rechte hat, ist egal. Das kann in zwei Nationalstaaten sein, in einer Föderation oder einem Staat. Persönlich glaube ich, wenn ich halbwegs realistisch zu sein versuche, dass ein Staat mit liberaler Demokratie zwischen Jordan und Mittelmeer noch ferner liegt als eine Lösung mit zwei Staaten.“
Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.