Dieses Festival legt Wert auf Zeitgenossenschaft, Diskurs- und Analysefähigkeit, auf seinen Platz ganz nah an der pochenden Aorta der globalen Konflikte und der tobenden Kriege. Mit Politik allein aber lässt sich das Massenpublikum, das die Berlinale braucht, um ihren immensen Aufwand zu rechtfertigen, nicht mobilisieren. Dazu benötigt sie dann doch den kurzfristigen Glanz leibhaftiger Filmstars am Teppich vor dem Festivalpalast. Und so traten sie alle wieder an: Kristen Stewart, Lena Dunham, Matt Damon, „Oppenheimer“-Titelheld Cillian Murphy und, nur zum Beispiel, die kenianische Jury-Präsidentin, „Star Wars“- und Marvel-Heldin Lupita Nyong’o. Und zur Festivalmitte wurde dem großen US-Regisseur Martin Scorsese, 81, noch der Goldene Bär für sein Lebenswerk verliehen.
Alles fein also, könnte man meinen, nur im Herzstück der Filmfestspiele, ihrem Wettbewerb, blieb deren scheidende Direktion, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, größere Würfe schuldig. Drei Werke, die zwischen Fremdscham und Originalitätszwang irrlichterten, gehörten da noch zu den spannenderen Programmpunkten: Die jüngste Groteske des französischen Regie-Sonderlings Bruno Dumont etwa, „L’Empire“, orchestriert – genüsslich vertrottelt – den alten Kampf zwischen Gut und Böse, wie im Weltall, so auf Erden, in einem nordfranzösischen Fischerdorf. Dumont veranstaltet seinen Kleinkrieg der Sterne im örtlichen Proletariat, mit interplanetarischen Feindseligkeiten, schnell gezückten Lichtschwertern und einem im Kathedralen-Spaceship sich im Harlekinskostüm psychopathologisch abstrampelnden Fabrice Luchini. Wenn es Preise für die bizarrste Regieleistung und das kurioseste Raumschiffdesign gäbe, Dumont müsste beide gewinnen.
In ganz anderen, aber kaum vernünftigeren Registern machten sich Aaron Schimbergs US-Psycho-Satire „A Different Man“ und Matthias Glasners „Sterben“, die dreistündige Chronik einer dysfunktionalen Familie, wichtig. Das offene Problem, wie man als Außenseiter leben soll, wird in beiden Fällen über völlig unglaubwürdige Drehbücher und einen gewaltigen Hang zur Publikumsanbiederung, also unbefriedigend gelöst.
Es gab im Rennen um den Goldenen Bären wohl etliche sehr respektable Arbeiten, denen nur zweierlei fehlte: Dringlichkeit und Innovationsgeist. Der mauretanische Regisseur Abderrahmane Sissako etwa analysierte in seiner transkulturellen Romanze „Black Tea“ – in fast schon zu geschmackvollen visuellen Arrangements – die Lebensbedingungen afrikanischer Zuwanderinnen in China. Die Fusion verschiedener Kulturen thematisierte auch Alonso Ruizpalacios in seinem in einem New Yorker Restaurant angesiedelten Kammerspiel „La cocina“. Der Exilrusse Victor Kossakovsky gestaltete mit „Architecton“ eine bildgewaltige und betonfeindliche Hymne an den Baustoff Stein. Und der schwedisch-dänische Regisseur Gustav Möller fügte dem Programm einen immerhin schnörkellosen Gefängnis-Rachethriller namens „Vogter“ zu. Am weitesten wagte sich, neben Kossakovsky, noch der Franzose Olivier Assayas aus der Deckung der konservativen Filmform: Sein autobiografisches Covid-Lustspiel „Hors du temps“ mischte persönliche Betrachtungen und Zitate aus Malerei und Filmgeschichte unter die Spielszenen.
Die Festivaljury steht somit vor schwierigen Entscheidungen, ehe sie am Samstagabend die Auszeichnungen der 74. Berlinale vergeben wird. Preiswürdig schon aus politischen Gründen muss die regimekritische iranische Tragikomödie „My Favorite Cake“ erscheinen. Dem Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha war die Ausreise behördlich untersagt worden. Ihre Seniorenromanze kann jedoch, trotz hochsympathischer Filmheldin (Lily Farhadpour), eine gewisse Inspirationslosigkeit in Bild, Dialog und Dramaturgie nicht verhehlen.
Preziosen aus Österreich sorgten nicht nur in den beiden Wettbewerbsschienen – in der einen ließen Veronika Franz und Severin Fiala ihre historische, von der internationalen Kritik mit Höchstwertungen bedachte Depressions- und Mörderinnenstudie „Des Teufels Bad“ vom Stapel, in der anderen Ruth Beckermann ihre beglückende Volksschul-Doku „Favoriten“ – für Debatten und ausverkaufte Vorstellungen. Die Bandbreite der Austro-Beiträge reichte vom Großprojekt bis zur surrealen Miniatur, von Alexander Horwaths episch-labyrinthisch erzähltem Kinoessay „Henry Fonda for President“ (im Programm des Forums) bis zu dem im Berlinale-Shorts-Wettbewerb nominierten Animationsfilm „Tako Tsubo“ von Eva Pedroza und Fanny Sorgo, der unter Menschen spielt, die nach der wunschgemäßen Entfernung zentraler Organe mit klaffenden Brustlöchern den Rest ihrer Lebenszeit verbringen.
Über das Wesen und Werk Henry Fondas, eines an sich selbst leidenden, selbstzweiflerischen Hollywoodstars, spiegelt der einstige Viennale- und Ex-Filmmuseum-Chef Horwath sein weit verzweigtes, via Off-Erzählung aber präzise kontrolliertes Porträt der Geschichte und Gegenwart der USA. Sein Regiedebüt ist von unbändiger Assoziationslust getrieben: eine Zentrifuge des politisch-kulturellen Weltwissens, eine Illustration auch der Ahnung, dass alles, wenn man es nur genau genug betrachtet, mit allem zusammenhängt. Wie in einem elaborierten Zaubertrick führt dieser – von Michael Palm fotografierte und sinnträchtig montierte – Film in kurzweiligen 184 Minuten vor, wie Pop und Politik, Schauspielerpsyche und nationale Identität, Leichtathletik und Menschenscheu, Rassismus und Verdrängung ineinander aufgehen können.
Surreale Töne hatte schließlich auch die Regisseurin Anja Salomonowitz, ebenfalls im Forum, auf Lager. Ihre artifizielle Reise durch die Lebensstationen der Malerin Maria Lassnig, das sie nach einem Werk der Künstlerin „Mit einem Tiger schlafen“ nannte, wird von einer experimentierfreudigen Schauspielerin getragen: Birgit Minichmayr, die (wie berichtet) auch in Josef Haders tragikomischer Provinz-Charakterstudie „Andrea lässt sich scheiden“ ihren Berlinale-Auftritt hatte, verkörpert Lassnig von deren Kindheit bis ans Totenbett, von den 1930er-Jahren bis 2014, ohne Makeup- und Maskenassistenz, nur durch linkische Körpersprache und Sprechweisen. „Mit einem Tiger schlafen“ ist ein über seine schiere Kauzigkeit zum Denken, Wundern und Grinsen verführender Film.