Kino

Zentrifuge des Weltwissens: Die Berlinale neigt sich ihrem Ende zu

Lagebericht kurz vor der Bären-Verleihung 2024: Die 74. Filmfestspiele in Berlin boten Respektables, Politisches und Skurriles – und zu viel Mediokres.

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Dieses Festival legt Wert auf Zeitgenossenschaft, Diskurs- und Analysefähigkeit, auf seinen Platz ganz nah an der pochenden Aorta der globalen Konflikte und der tobenden Kriege. Mit Politik allein aber lässt sich das Massenpublikum, das die Berlinale braucht, um ihren immensen Aufwand zu rechtfertigen, nicht mobilisieren. Dazu benötigt sie dann doch den kurzfristigen Glanz leibhaftiger Filmstars am Teppich vor dem Festivalpalast. Und so traten sie alle wieder an: Kristen Stewart, Lena Dunham, Matt Damon, „Oppenheimer“-Titelheld Cillian Murphy und, nur zum Beispiel, die kenianische Jury-Präsidentin, „Star Wars“- und Marvel-Heldin Lupita Nyong’o. Und zur Festivalmitte wurde dem großen US-Regisseur Martin Scorsese, 81, noch der Goldene Bär für sein Lebenswerk verliehen.
Alles fein also, könnte man meinen, nur im Herzstück der Filmfestspiele, ihrem Wettbewerb, blieb deren scheidende Direktion, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, größere Würfe schuldig. Drei Werke, die zwischen Fremdscham und Originalitätszwang irrlichterten, gehörten da noch zu den spannenderen Programmpunkten: Die jüngste Groteske des französischen Regie-Sonderlings Bruno Dumont etwa, „L’Empire“, orchestriert – genüsslich vertrottelt – den alten Kampf zwischen Gut und Böse, wie im Weltall, so auf Erden, in einem nordfranzösischen Fischerdorf. Dumont veranstaltet seinen Kleinkrieg der Sterne im örtlichen Proletariat, mit interplanetarischen Feindseligkeiten, schnell gezückten Lichtschwertern und einem im Kathedralen-Spaceship sich im Harlekinskostüm psychopathologisch abstrampelnden Fabrice Luchini. Wenn es Preise für die bizarrste Regieleistung und das kurioseste Raumschiffdesign gäbe, Dumont müsste beide gewinnen. 

In ganz anderen, aber kaum vernünftigeren Registern machten sich Aaron Schimbergs US-Psycho-Satire „A Different Man“ und Matthias Glasners „Sterben“, die dreistündige Chronik einer dysfunktionalen Familie, wichtig. Das offene Problem, wie man als Außenseiter leben soll, wird in beiden Fällen über völlig unglaubwürdige Drehbücher und einen gewaltigen Hang zur Publikumsanbiederung, also unbefriedigend gelöst.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.