Georg Hoffmann-Ostenhof Weniger Demokratie wagen?
Das kann verwirrender nicht sein: Da gehen Millionen Ägypter auf die Straße und fordern den Rücktritt von Mohammed Mursi, dem Muslimbruder, der vor einem Jahr in freien Wahlen zum Präsidenten gewählt wurde. Die Führer der liberalen Opposition rufen die Armee zu Hilfe. Die entfernt durch einen Putsch das demokratisch legitimierte Staatsoberhaupt von der Macht. Dieselben, die einst im Frühling vor zwei Jahren den sich auf die Armee stützenden Diktator Mubarak zu Fall brachten, jubeln nun den Generälen zu. Die Führer der islamistischen Mehrheitspartei werden verhaftet. Und auf deren Anhänger, die massenhaft gegen den Staatsstreich protestieren, wird scharf geschossen.
Wer sind in diesem beunruhigenden und gefährlichen Szenario am Nil die Guten und wer die Bösen, wer die Demokraten und wer die Antidemokraten? Wen gilt es zu unterstützen, wen zu verurteilen? Schwer zu sagen.
Wahrscheinlich kann nur verstehen, was sich da in Nordafrika abspielt, wer erkennt, dass Freiheit und Demokratie zwei Begriffe, die im üblichen politischen Diskurs wie selbstverständlich in einem Atemzug genannt werden nicht so fest aneinander gebunden sind, wie es den Anschein hat. In Ägypten zeigt sich, dass Freiheit und Demokratie auseinanderfallen, ja, Feinde werden können.
Mursi war zwar von der Majorität gewählt, hatte aber dann im Amt die Gerichte übergangen, die Medien eingeschüchtert, den Schutz von Frauen und Minderheiten verweigert und immer penetranter seine islamistische Agenda durchzuziehen versucht. Er entpuppte sich als Feind der Freiheit. Ob nun diese nach dem Mursi-Sturz wieder hergestellt wird oder aber das Militär sowohl der Demokratie als auch der Freiheit den Garaus macht, ist offen.
Ägypten ist kein Ausnahmefall. Das wird gerade in diesem Sommer deutlich. Auch in der Türkei ist der drei Mal mit großen Mehrheiten gewählte konservative Muslim Recep Tayyip Erdogan der lange als Modernisierer des Landes gepriesene Premier auf einen autokratischen Kurs eingeschwenkt. Er lässt kritische Journalisten zuhauf einsperren, Demos niederwalzen und beruft sich dabei auf sein demokratisches Mandat. (Erdogan hat aber die Macht des Militärs so weit gestutzt, dass es ihn nicht stürzen könnte auch wenn die liberale Opposition die Generäle zu Hilfe riefe.)
Und Wladimir Putin? Auch er ist nicht nur ein Mal in mehr oder weniger fairen Urnengängen zum Präsidenten gekürt worden, hat aber nicht gezögert, über die Jahre hinweg die ohnehin wenigen vorhandenen rechtsstaatlichen Strukturen im Land faktisch zu beseitigen, bürgerliche Freiheiten einzuschränken und die Demokratie zu einer potemkinschen Kulisse verkommen zu lassen.
Ägypten, Türkei, Russland: Das sind nur einige Beispiele für das, was Fareed Zakaria in einem 1998 im US-Magazin Foreign Affairs veröffentlichten und legendär gewordenen Artikel illiberale Demokratie nennt. In Entwicklungs- und Schwellenländern sei diese hybride Herrschaftsform inzwischen vorherrschend, stellt der US-indische Star-Intellektuelle fest. Kritisch und skeptisch beleuchtet er in seinem Essay den weithin gefeierten weltweiten Siegeszug der Demokratie: Wahlen, so analysiert er, tendierten, wenn sie nicht auf unabhängigen Gerichten, bürgerlichen Freiheiten und politisch-pluralistischen Erfahrungen aufbauen können, dazu, Autoritarismus erst so recht zu befördern und letztlich die Demokratie auszuhöhlen, abzubauen und zu diskreditieren.
Zakaria zeigt auf, dass in Europa bereits historisch starke Institutionen des Rechtsstaates und der bürgerlichen Freiheiten bestanden, lange bevor dann im 20. Jahrhundert das allgemeine Wahlrecht errungen wurde. Dieses war sozusagen der Endpunkt einer Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauernden Entwicklung. Zu glauben, dass umgekehrt Wahlen den Weg zur liberalen Demokratie eröffnen könnten, hält Zakaria für eine gefährliche Illusion.
So provozierte er mit dem Satz: Was wir heute in der Politik brauchen, ist nicht mehr Demokratie, sondern weniger. Und er verweist mit unverhohlener Sympathie auf einst liberal-autoritäre Regime wie etwa Taiwan, Südkorea und Hongkong, die sich zu halbwegs liberalen Demokratien entwickeln konnten. Das seien veritable Erfolgsgeschichten. Gewiss hat Zakaria Recht, wenn er den Westen davor warnt, Länder, die sich von einem Despoten befreit haben, aber keine demokratischen Traditionen und Strukturen des Rechtsstaates haben, zu drängen, möglichst schnell zu den Urnen zu schreiten. Dass dies kontraproduktiv sein kann, hat sich mehrfach erwiesen. Aber auf einer gemächlichen Abfolge Diktatur, liberale Autokratie, liberale Demokratie zu bestehen, wie dies Zakaria tut, erscheint im 21. Jahrhundert denn doch nicht sehr praktikabel. Die Völker halten sich eben nicht an von noch so klugen Intellektuellen verordnete Etappenpläne.
Auch am Nil ist trotz der aktuellen Konterrevolution noch nicht aller Tage Abend. Die ägyptische Straße hat Mubarak gestürzt, dem darauf folgenden Regime der Armee getrotzt und nun mit dieser die illiberale Demokratie des Mohammed Mursi beendet. Werden die so beeindruckend in Bewegung geratenen ägyptischen Massen tatenlos zusehen, sollten die Generäle versucht sein, wieder eine Diktatur zu errichten? Wohl kaum.
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