Elfriede Hammerl Zappelphilipps Mutter
Früher gab es den Zappelphilipp. Er störte, er war lästig, er war ungezogen. Ungezogen hieß: der Zappelphilipp benahm sich nach allgemeinem Dafürhalten aus eigener Entscheidung daneben. Er könne sich, dachte man, auch richtig benehmen, habe aber keine Lust dazu. Er passe nicht auf, weil er nicht aufpassen wolle. Er störe, weil er das dem Nicht-Stören vorziehe. Sein Verhalten lag nach übereinstimmender Auffassung in seiner eigenen Verantwortung. Seinen Eltern wurde allenfalls vorgeworfen, dass sie ihn nicht hart genug gedrillt hätten, um ihm die Flausen auszutreiben.
Heute hat der Zappelphilipp ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung, auch Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom genannt. Das ist eine Krankheit. Der Zappelphilipp kann nichts dafür, wenn er unliebsam auffällt, unkonzentriert ist, nie still sitzt, weil er krank ist. So sieht man es mittlerweile.
Über die Ursachen seiner Störung gibt es unterschiedliche, ja kontroversielle Ansichten. Während die einen sie vor allem im Gehirn suchen und auf medikamentöse Therapien setzen, sehen die anderen in seinem Benehmen eine Reaktion auf Umwelt und Umfeld. Sie kritisieren, dass unangepasstes Verhalten mittlerweile viel zu oft pathologisiert werde und fordern statt des Einsatzes von Medikamenten eine genauere Untersuchung der sozialen Verhältnisse, in denen solche Kinder leben.
Eine interessante Auseinandersetzung, die wohl noch längere Zeit andauern wird. In der Debatte taucht allerdings ein Schlüsselwort auf, das einigermaßen befremdet. Es heißt: Alleinerzieherin.
Warum, so fragte der deutsche Erziehungswissenschafter Hans Hopf in einem Gastkommentar für den Standard am 3. Juni, wird bei den Söhnen alleinerziehender Mütter häufiger ADHS diagnostiziert?
Ja, warum? Herr Hopf beantwortet die Frage nicht, und aus seinem Kommentar, in dem er davor warnt, das Wechselspiel zwischen Leib und Seele zu unterschätzen, geht für mich nicht klar hervor, ob er in der häufigeren Diagnose eine gesellschaftliche Stigmatisierung der alleinerziehenden Söhne-Mütter sieht oder selber dazu neigt, ihnen erzieherische Defizite zu unterstellen. Aber egal, was bleibt, ist die Tatsache, dass wieder einmal die Alleinerzieherinnen (diesfalls von Söhnen) unter besonderen Verdacht geraten.
Das ist nicht neu. Und es ist unerträglich. Die alleinerziehende Mutter als Produzentin von Problemkindern. Gehts noch? Und können wir bitte endlich einmal festhalten, dass Alleinerzieherinnen keine dubiose Spezies sind, schon deshalb, weil sie keine homogene Gruppe bilden?
Alleineinerzieherin ist nicht Alleinerzieherin. Es ist ein erheblicher Unterschied zwischen einer Teenager-Mutter ohne Job und einer beruflich gefestigten Mittdreißigerin. Zwischen einer, die von Eltern oder Geschwistern unterstützt wird, und einer Frau, die ohne familiären Rückhalt über die Runden kommen muss. Zwischen einer Mutter, die sich Babysitter leisten kann, und einer, die, auf dem Land wohnend, nicht einmal eine Ganztagsschule in erreichbarer Nähe hat. Zwischen Müttern mit einem einigermaßen ausreichenden Einkommen und solchen, wo es sich hinten und vorne nicht ausgeht. Und es ist auch nicht ohne Bedeutung, wie viele Kinder eine Alleinerzieherin mit ihrer Erwerbsarbeit vereinbaren muss. So viele mögliche Lebenssituationen. Und alle in einen Topf geworfen mit dem Aufkleber Alleinerzieherin. Weshalb?
Offenbar aus der Vorstellung heraus, dass die glückliche von der unglücklichen Familie nur eins unterscheidet: die Anwesenheit des (biologischen) Vaters. Kein Vater, keine glückliche Familie. Mutter allein: Not und Verderben.
Natürlich leben Kinder gern mit liebevollen Vätern. Natürlich ist es einfacher und auch vergnüglicher, Kinder gemeinsam mit einem kooperativen Partner großzuziehen. Natürlich wirtschaftet es sich besser mit zwei Gehältern.
Aber nicht alle Väter sind liebevoll. (Auch nicht alle Mütter, schon klar.) Nicht alle Partner sind kooperativ. Und manche Mütter erziehen allein, obwohl der Kindesvater im gemeinsamen Haushalt lebt. Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Alleinerzieherinnen. Sie tragen mehr Verantwortung und mehr Alltagslast als andere. Sie sind häufiger von Armut betroffen. Trotzdem sind sie keine homogene Masse.
Wie Mütter als Mütter agieren, hängt von vielen Faktoren ab. Und im Endeffekt entscheidet ihre Persönlichkeitsstruktur, wie sie mit welcher Herausforderung umgehen. Es gibt Mütter, die trotz Überlastung die Nerven behalten, und andere, die leicht die Geduld verlieren. Es gibt fröhliche Mütter und mieselsüchtige, zuversichtliche und ängstliche, großzügige und kleinliche. Und es gibt unterschiedliche Persönlichkeiten unter den Kindern.
Wer auf wen trifft, das ist maßgeblich fürs Zusammenleben. Das darf aber nicht zu der simplen Schlussfolgerung verführen, dass die Persönlichkeit des Kindes ausschließlich durch mütterliches Einwirken geformt wird, und schon gar nicht zu der Annahme, dass mütterliche Qualitäten am Beziehungsstatus der Mutter ablesbar wären.
Der Zappelphilipp ist rehabilitiert, und das ist gut so. Man muss ihm helfen, statt ihn zu beschuldigen. An seiner statt seine (alleinerziehende) Mutter zu diskriminieren, ist keine Lösung.