Antimarxismus-Check: Die ÖVP als Canceler-Partei
Die Ablehnung des Marxismus hat viele intellektuelle, literarische und politische Großtaten hervorgebracht. Der österreichische Philosoph Sir Karl Popper geißelt in „Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen“, dem zweiten Band seines Werks „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, Karl Marx„ Thesen als Weg in totalitäres Denken.
Großbritanniens Premierminister Winston Churchill verdanken wir diesen Satz: „Sozialismus ist die Philosophie des Versagens, das Glaubensbekenntnis der Ignoranz und das Evangelium des Neids.“
Und der legendäre deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher wurde als junger Jurist in der DDR von einer Beamtin des Justizministeriums gefragt, was er lese. „Beispielsweise Marx und Lenin“, sagte Genscher. Sie schloss die Frage an, weshalb er nicht in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eintrete, wo er doch so viel über den Marxismus-Leninismus wisse. Genschers überlieferte Antwort: „Eben weil ich so viel darüber weiß.“
Drei Liberale, drei Antimarxisten.
Aber Vorsicht, an dieser Stelle lauert der Abgrund. Auch die Wiener ÖVP-Gemeinderätin Laura Sachslehner und ihr Kollege Manfred Juraczka haben sich vergangene Woche als Antimarxisten versucht. Sie taten dies in der Folge einer ausnehmend inhaltsleeren Debatte über die marxistische Neigung des neuen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler. Doch während die historischen Vorbilder mit ihrer Kritik an Marx die freie Gesellschaft verteidigten, verfielen Sachslehner und Juracka auf eine besonders erbärmliche – und politisch brandgefährliche – Spielart des Antimarxismus.
Sie brachten im Gemeinderat folgenden Beschlussantrag ein: Die Stadt Wien soll demnach „alle Fördernehmer“ einer „Überprüfung“ unterziehen, um herauszufinden, ob bei ihnen eine „womöglich marxistisch-leninistische bzw kommunistische weltanschauliche Grundlage“ bestünde und sie „diese linksextreme Ideologie“ verbreiteten.
Das ist unverhüllte Gesinnungsschnüffelei und widerspricht Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention – Freiheit der Weltanschauung –, die in Österreich seit 1964 im Verfassungsrang steht. Welcher Staat macht finanzielle Unterstützung für Medien, Kultur und Wirtschaft von der Weltanschauung der Antragsteller abhängig? Richtig, zum Beispiel ein sozialistischer Staat wie die DDR. Dort stilisierten sich die Zensoren als „Kulturförderer“ und agierten auf Basis ideologischer Richtlinien. Wer im Namen des Antimarxismus die Freiheit der Weltanschauung über Bord wirft, hat mehr mit Margot Honecker, Ministerin für Volksbildung der DDR, gemein als mit Sir Karl Popper.
Wer macht finanzielle Unterstützung von der Weltanschauung der Antragsteller abhängig? Sachslehner, Juraczka und die DDR.
Vielleicht fiel die Empörung über den grotesken Antrag vergleichsweise moderat aus, weil Sachslehner und Juraczka, respektive die ÖVP Wien, als politisch vernachlässigbare Größe gelten, doch dabei wird die Konsequenz solcher Ideen übersehen. Wie kann es sein, dass niemand in der ÖVP so viel liberales Denken aufbringt, Juraczka und Sachslehner darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich ins ideologische Jenseits begeben? Wo ist Verfassungsministerin Karoline Edtstadler?
Eine freie Gesellschaft braucht keinen Index verbotener Weltanschauungen, vom aus historischen Gründen untersagten Nationalsozialismus abgesehen. Zudem stellt weder die marxistische Lehre noch all das, was heute als „Marxismus“ durch die Debatten flirrt – meist mehr oder weniger radikaler Antikapitalismus – eine Gefahr dar. Selbst Popper würdigt Marx’ Leistungen auf dem Gebiet der Ökonomie, und dass es in einem kapitalistischen System eine entsprechende Gegenbewegung geben muss, ist jedem Demokraten klar. Die Fördernehmer der Stadt Wien werden vermutlich keine Diktatur des Proletariats errichten.
Eigentlich sprießen Flausen wie die „Cancel Culture“ im aktuellen Zeitgeist eher auf progressiver Seite. Pressure groups wollen bestimmen, wer welche Meinung keinesfalls vertreten darf, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigen will. Das halten Konservative – zu Recht – für eine unzulässige Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Doch der Anlassfall zeigt, dass hinter dem Protest oft keine echte, liberale Überzeugung steht, sondern bloß die Gegnerschaft zu den Linken.
Es ist keine nostalgische Verklärung der jüngeren Geschichte der ÖVP, zu konstatieren, dass diese Partei einst mehr Sinn und Gespür für Weltoffenheit auszeichnete. Erhard Busek, ÖVP-Obmann in der 1990er-Jahren, erzählte einmal in einem „Kurier“-Interview über seine Begegnungen mit Aktivisten im Ostblock: „Über tschechoslowakische Gruppen, die sich mit dem Dialog zwischen Christentum und Marxismus beschäftigt haben, bekam ich Kontakte nach Polen.“ Die christlich-soziale Partei verfügte nicht bloß über einen liberalen Flügel, sondern auch über intellektuelle Neugier. Die wurde offenbar abgelöst von ideologischem Beißreflex.
Das ist erstens traurig und zweitens ein politisches Problem. Auf wen ist bei der Verteidigung der Freiheit aller Weltanschauungen in der ÖVP Verlass?
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