Martin Staudinger: Reden wir lieber über Untergrenzen!
Es gibt einen grundsätzlichen Denkfehler im „Obergrenzen“-Konzept, das die österreichische Regierung gestern präsentiert hat: Asyl wird dabei behandelt wie Zuwanderung. Und während bei Zuwanderung nichts gegen Obergrenzen einzuwenden wäre, spricht bei Asyl sehr viel dagegen – rechtlich, moralisch und auch praktisch.
Etwas Besseres ist den politisch Verantwortlichen trotzdem nicht eingefallen. Dabei sollte die aktuelle Flüchtlingskrise eigentlichen niemanden überraschen. Das ist nicht leicht dahingesagt, weil man im Nachhinein leicht gescheit reden kann: Seit Jahren wissen alle Verantwortlichen, dass das Asylsystem unter anderem deshalb so überlastet ist, weil sich die EU nie zu einer vernünftigen Einwanderungspolitik entschließen wollte – mit angemessenen Kontingenten für Wirtschaftsmigranten.
Die Vorteile für beide Seiten liegen auf der Hand: Unter geregelten Umständen könnten Zuwanderer leichter am Arbeitsmarkt Platz finden, gleichzeitig demografische Lücken schließen und durch Zuwendungen an ihre Angehörigen in den Heimatländern nebenbei auch noch treffsichere Entwicklungshilfe leisten.
Dass diese Möglichkeit nicht geschaffen wurde – sei es aus mangelnder Weitsicht oder vorauseilendem Gehorsam gegenüber einer vermuteten öffentlichen Meinung – wirkt sich nun fatal aus. Hunderttausende, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren, sahen in den vergangenen Jahren nämlich nur eine Chance, ins gelobte Europa zu gelangen: sich als Verfolgte im Sinne der Flüchtlingskonvention und anderer Asylbestimmungen auszugeben und damit anderen, die tatsächlich Schutz vor Krieg und Verfolgung brauchen, dafür verfügbare Ressourcen streitig zu machen.
Ein kleines Land wie Österreich hätte durch einen Alleingang in der Migrationspolitik wenig bewirkt – ein gemeinsames Vorgehen Europas aber sehr wohl. Die Flüchtlingskrise wäre damit zwar nicht verhindert worden. Aber wenn wir frühzeitig damit begonnen hätten, Untergrenzen für Zuwanderer zu vereinbaren, würden wir jetzt vielleicht weniger nach Obergrenzen für Flüchtlinge rufen.