Kolumne

Auf dem Prüfstand

Der Gegenkandidat ist durchgeknallt, aber an der Kandidatin wird herumgenörgelt.

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Stell dir vor, du bist, sagen wir, eine hoch qualifizierte Chirurgin mit einem beeindruckenden Lebenslauf und musst dich um die zur Disposition stehende Leitung der Klinik mit einem verhaltensauffälligen Patienten matchen, der schwer psychopathische Züge aufweist. Er ist als Krimineller verurteilt, ergeht sich in größenwahnsinniger Selbstverherrlichung, sagt anderen absonderliche Vergehen nach, hat versucht, die Klinik anzuzünden, und verkündet, dass er eine Schreckensherrschaft plant. Trotzdem gibt es intelligente Menschen, die eine Menge Gedankenarbeit in die Frage investieren, ob DU auch wirklich die geeignete Person für die Klinikleitung bist. Können dich ausreichend viele Patient:innen leiden? Warst du mit dem seinerzeitigen Klinikvorstand befreundet, und wenn ja, wie sehr? Heißt es nicht, du hättest als Assistenzärztin einen strengen Ton draufgehabt? Und warum lachst du, statt bloß damenhaft zu lächeln? Dein Gegenspieler ist ein unqualifizierter Psychopath, mag sein, trotzdem analysieren wir deine Stärken und deine Schwächen und dein Aussehen und dein Mienenspiel so, als gehe es um deine grundsätzliche Eignung statt einfach um die Frage, ob am Ende der Psychopath gewinnt, Eignung hin oder her.

Man muss sich das nicht vorstellen, es findet real statt, nur, dass Kamala Harris keine Chirurgin ist und dass sie sich nicht um die Leitung eines Spitals matcht.

Natürlich gilt es abzuwägen, wie es um ihre Chancen steht und warum was welche Rolle spielen kann im Endspurt um die Präsidentschaft. Und klar ist es von Bedeutung, bei welchen Zielgruppen der sexistische und rassistische Bullshit ankommt, der jetzt über sie verbreitet wird. Dennoch hat es einen Hauch von Perversion, wenn mehr oder weniger kluge Menschen in den sozialen und sonstigen Medien sich lang und breit mit den Fähigkeiten und eventuellen Fehlern einer kompetenten Frau auseinandersetzen, deren Alternativkandidat ein durchgeknallter Typ mit wüsten diktatorischen Fantasien ist.

Es hat einen Hauch von Perversion, wie man sich mit eventuellen Fehlern Kamala Harris’ beschäftigt.

Das war auch schon merkwürdig, als Hillary Clinton gegen Donald Trump antrat, die zwar nicht tadellos war, aber ein leuchtendes Vorbild an Integrität im Vergleich zu ihm und hundertmal klüger als er. Auch damals stellte sich die Frage, warum Kandidatinnen untadelig sein müssen, um tadelnswerten Kandidaten Paroli bieten zu dürfen.

Wie wir wissen, bekam Clinton fast drei Millionen Wähler:innenstimmen mehr als Trump, aber, ach, dem US-Mehrheitswahlrecht zufolge sind sie im Papierkorb gelandet, und dass so was wieder passieren könnte, stimmt extrem unfroh. Und deshalb werden wir halt weiterhin mit akribischem Eifer verfolgen, ob Kamala Harris in einem der Swing States vielleicht zum falschen Zeitpunkt hustet, aber absurd und ärgerlich ist es doch.

Der Ullstein Verlag hat inzwischen die deutsche Ausgabe der „Hillbilly-Elegie“ von J. D. Vance aus dem Programm genommen, als Reaktion auf dessen „aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“, wie eine Sprecherin des Verlags verkündete. Das war insofern übereifrig, als die Autobiografie, die Vance, heute Trumps Running Mate, im Alter von 31 Jahren schrieb und die 2016 zum weltweiten Bestseller wurde, ja nicht die Hass- und Hetztiraden des aktuellen Trump-Wahlprogramms wiedergibt, sondern das (armselige) Leben des weißen Proletariats im Rust Belt behandelt.

Vance erzählt darin seinen Werdegang vom Kind aus trostlosen Verhältnissen zum Yale-Absolventen, und er tut das mit einer Mischung aus kalter, präziser Analyse und dem Beschwören einer tiefen emotionalen Bindung an sein Herkunftsmilieu. Letzteres mag mehr Lippenbekenntnis als aufrichtige Zuneigung sein, denn liebenswert ist an den gewalttätigen Gestalten seines Umfelds als Kind und Jugendlicher wenig, aber insgesamt beschreibt er die Mentalität dieser Bevölkerungsgruppe einleuchtend und aufschlussreich. Aufschlussreich sind auch Passagen wie die, in der Vance seinen kindlichen Umgang mit den wechselnden Liebhabern seiner (drogenabhängigen) Mutter schildert. Er spielte dem Typ mit dem Ohrring so überzeugend eine Begeisterung für Ohrringe vor, dass der ihm ein Ohrläppchen durchstach, schwärmte vor dem Polizistenfreund für Polizeiautos und mimte für die zwei Kinder eines dritten Lovers den netten Stiefbruder. Vance: „Aber nichts davon war echt. Ich hasste Ohrringe, ich hasste Streifenwagen, und ich wusste, dass ich mit Kens Kindern in spätestens einem Jahr nichts mehr zu tun haben würde.“* So viel früh erworbene charakterliche Geschmeidigkeit erklärt vielleicht, wie aus dem scharfen Trump-Kritiker Vance schlagartig dessen ergebener Anhänger wurde, als sich an Trumps Seite die Chance auf das Amt des Vizepräsidenten eröffnete.

Auch wenn man hofft, dass dieser Opportunismus Vance nicht ans Ziel bringen wird, ist die Lektüre seiner Memoiren nichts, wovor man deutschsprachige Leser:innen bewahren müsste. Ein deutscher Nachfolgeverlag – Yes Publishing – hat sich prompt bereits gefunden. Gut so.

Zum Schluss ganz kurz: ÖVP schlägt Großelternkarenz vor. Was kommt als Nächstes? Hausunterricht bei Oma und Opa, um den Lehrer:innenmangel zu kompensieren? 

 

* J. D. Vance: Hillbilly-Elegie. Ullstein 2017