Martin Staudinger: Beinstellungsgespräche
Jetzt ist das, was die Online-Zeitung „Huffington Post“ in angemessener Dramatik den „gobalen Kampf gegen öffentliches Manspreading“ nennt, auch in Istanbul angekommen: „Gehorchen wir der weltweit akzeptierten Regel und warnen wir diejenigen, die dies verabsäumen“, heißt es neuerdings auf Verbotsschildern in der U-Bahn, die eine breitbeinig dasitzende Figur zeigen – ein grafisches Symbol für die Unart mancher Männer, sich in öffentlichen Transportmitteln über mehr als einen Platz auszubreiten.
Die türkische Metropole befindet sich damit in bester Gesellschaft. In den vergangenen Monaten wurde Manspreading unter anderem von New York, Boston, Seattle und Madrid verpönt. In Paris hat der Gemeinderat die kommunalen Verkehrsbetriebe Anfang Juli aufgefordert, für mehr Sensibilisierung der Fahrgäste in Hinblick auf das Problemfeld zu sorgen.
In Deutschland, die Wette gilt, wird es wohl auch bald so weit sein. Immerhin hat die „Zeit“ (vom Format her so etwas wie der Manspreader unter den Printprodukten) dem Thema bereits eine breite Debatte gewidmet: „Muss Manspreading wirklich verboten werden?“, fragte das Blatt.
Die Antwort kann angesichts der inzwischen wissenschaftlich erhobenen Fakten nur lauten: Unbedingt! Immerhin haben wir es dabei, wenn dem französischen Abgeordnete zu glauben ist, der den Antrag zur Bekämpfung von Manspreading in der Pariser Metro eingebracht hat, mit einer „schädlichen Form“ von „exklusiv männlicher Gewalt“ zu tun – also mit etwas, das weitaus schlimmer ist als alle anderen Zumutungen des öffentlichen Nahverkehrs, sei es Schweiß-Stinking, Parfüm-Overdosing, „Zeit“-Reading und sogar dem eher weiblich konnotierten Fembagging, also der großzügigen Verteilung von Hand- und Einkaufstaschen im Fahrgastraum.
Das Problem ist so alt wie das Patriarchat, und somit nicht mit freundlichem Zureden in den Griff zu bekommen.
Vor Kurzem bestätigte eine Studie des US-amerikanischen Hunter College, bei der die Körperhaltung von 5100 Passagieren in 21 U-Bahn-Linien analysiert wurde, alle schlimmen Vermutungen. „26 Prozent der sitzenden männlichen Fahrgäste hatten sich des Manspreading schuldig gemacht – und es gab keine Hinweise darauf, dass die Täter ihr Verhalten änderten, wenn sich die Waggons füllten“, fasste der TV-Sender NBC New York die Ergebnisse anklagereif zusammen: „Es handelte sich überwiegend um Männer im Alter zwischen 20 und 39 Jahren (30 Prozent derjenigen, die mit gespreizten Beinen beobachtet wurden), gefolgt von 40- bis 49-Jährigen. Nur bei 17 Prozent der Manspreader stellte sich heraus, dass sie eingenickt waren.“
Ja, Sekundenschlaf kann ein Milderungsgrund sein. Aber abgesehen davon führt wohl kein Weg an einer härteren Gangart gegen den allzu offenen Schritt vorbei. Denn angesichts der Ausmaße, die das Manspreading offenkundig angenommen hat, muss daran gezweifelt werden, dass es mit Verbotsschildern alleine getan sein wird.
Abgesehen davon ist das Problem so alt wie das Patriarchat, und somit nicht mit freundlichem Zureden in den Griff zu bekommen. Schon 1836 sah sich die „Times of London“ veranlasst, unter dem Titel „The Omnibus-Law“ eine Liste von zwölf Richtlinien zur Sitzkultur in öffentlichen Verkehrsmitteln zu veröffentlichen. „Halten Sie die Gliedmaßen gerade“, hieß es darin unter Punkt fünf, „und unterlassen Sie es, mit den Beinen einen Winkel von 45 Grad zu beschreiben und dadurch den Raum von zwei Personen einzunehmen.“
Mit Vorschriftsbürokratie und Anklagerhetorik wird Manspreading schwerlich aus der Welt zu schaffen sein.
Muss man so weit gehen, den Einsatz von Aufsichtspersonal zu erwägen, um die Einhaltung der Vorschriften durchzusetzen? Es gibt durchaus erprobte Vorbilder für die Reglementierung des Verhaltens im öffentlichen Raum, sie müssen ja nicht gleich so unduldsam auftreten wie die Sittenwächter im Iran oder die Religionspolizei in Saudi-Arabien.
Am Beginn eines Stufenverfahrens könnten freundliche Hinweise stehen, in einer zweiten Phase Einladungen zur freiwilligen Teilnahme an Trainingskursen, bei denen korrektes Sitzen geübt wird. Parallel dazu sind Übergangsfristen denkbar, die eine schrittweise Angleichung an die vereinbarten Beinwinkelziele ermöglichen. Geldstrafen sollten erst in letzter Konsequenz verhängt werden, Haft lediglich für Mehrfach-, Serien- und Intensivspreader.
Gesamtheitlich betrachtet, verspricht das entschlossene Vorgehen gegen Manspreading nicht nur mehr Rechtssicherheit bei alltäglichen Sozialkontakten, sondern auch die Entlastung des Gesundheitssystems durch die Prävention von Haltungsschäden sowie konjunktur- und arbeitsmarktbelebende Impulse durch die Entstehung neuer Jobs.
Es sei denn, wir einigen uns darauf, dass Manspreading – das ja vor allem im Sinne der prinzipiellen Einhegung des Mannes bekämpft wird, und weniger aufgrund von Sitzraummangel – schwerlich mit Anklagerhetorik und Vorschriftsbürokratie aus der Welt zu schaffen sein wird. Und tun das, was erfahrungsgemäß gar nicht so schlecht funktioniert: jemanden, der sich über alle Maßen ausbreitet, höflich aber bestimmt zu fragen, ob er (oder sie) sich vielleicht ein bisschen kleiner machen kann.