Christian Rainer: 2021 ff.
Aus dem Blickwinkel der letzten Wochen des Jahres war 2020 kein annus horribilis. Eine entsprechende Einordnung ist ähnlich übertrieben wie der Vergleich, wonach wir durch die schlimmste Krise seit 1945 gehen oder gegangen sind. Wer das sagt, vergeht sich an allen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, weil schon der Versuch, eine Relation herzustellen, durch das ungeheure Gefälle nicht statthaft ist. Eine derartige Behauptung ist ein Schlag ins Gesicht für Menschen, welche die Kämpfe im ehemaligen Jugoslawien als Auseinandersetzungen in ihrer eigenen Heimat erlitten haben, eine Erniedrigung für alle, die Opfer irgendeines Krieges "seit 1945" wurden. Das amerikanische Magazin "Time" bezeichnet 2020 auf der Titelseite seines Jahresrückblicks als "Worst Year Ever", und ich verstehe nicht, dass für diesen Unsinn, diese Geschichtsvergessenheit, diese Rücksichtslosigkeit gegenüber so vielen, die Schlimmeres als 2020 erlebt haben, nicht der Chefredakteur gefeuert wurde, niemand zurücktreten musste.
Wer keinen Covid-19-Toten in der Familie oder im engsten Freundeskreis zu beklagen hat, nicht krank mit Folgeschäden ist, wer mit seinem Unternehmen nicht in eine Insolvenz geschlittert ist, eine solche gewärtigen muss oder dauerhaft seinen Arbeitsplatz verloren hat, sollte auf das vergangene Jahr als eine bloße Mühseligkeit zurückblicken. Der erste Lockdown war eine abenteuerliche Episode mit Ablaufdatum. Der zweite Lockdown verlief in der Sache weniger einengend, für die schon angeschlagene Psyche wurde die Angelegenheit aber zermürbend. Dazwischen gab es genügend Monate der individuellen sowie gesellschaftlichen Normalität.
Der Blick auf die Finanzmärkte bestätigt: Trotz des punktuell tatsächlich schlimmsten Konjunktureinbruchs seit 1945 herrscht Stabilität. Der US-Aktienindex Dow Jones erreichte kürzlich den höchsten Wert seiner Geschichte. Diese Zahlen sind nicht Ausdruck von feuchten Träumen eines senilen Kapitalismus in seinen letzten Tagen. Vielmehr lassen sich der Status und die Entwicklung diesseits der Grenze zum volksund betriebswirtschaftlichen Irrsinn rational erklären.
Annus horribilis? Mitnichten! Wer will, kann sogar das Gegenteil behaupten: Die Welt habe sich im Angesicht der Pandemie erstaunlich resistent gezeigt. Und die Wissenschaft, ein Produkt der Aufklärung, des menschlichen Fortschritts, habe bewiesen, dass sie diese Welt mit der Entwicklung eines Impfstoffes innerhalb weniger Monate wieder auf Schiene bringen kann.
Aber leider ist alles etwas anders. Was in diesen Zeilen als Optimismus hervortritt, ist nur eine Momentaufnahme. Im Jahr 2020 wurden wir vom Schicksal gestreift. Menschen starben. Wirtschaftszweige vertrockneten. Wir schränkten unsere Freiheit aus eigenem Antrieb ein. Doch die Krise ist zeitlich begrenzt. Der Impfstoff bringt Heilung. Das Nachher kann daher sein wie das Zuvor. Mit den großen Krisen, die uns drohen, hat Corona wenig gemein. Die Begriffsverwirrung ist gefährlich, nicht weniger als eine Verharmlosung des Weltunterganges.
Als "Menschen des Jahres" 2020 wählte profil in der zurückliegenden Ausgabe "Die WissenschafterInnen auf der Suche nach der Corona-Impfung". Ein Jahr zuvor, 2019, war es Greta Thunberg. Unsere Begründung damals lautete: "Sie zwingt nicht nur die Mächtigen, sich dem Klimawandel zu stellen, sondern auch jeden einzelnen von uns." Jenes Thema ist über Corona in Vergessenheit geraten, jedenfalls in den Hintergrund getreten. Das Gegenteil von dem, was eigentlich passieren sollte.
Die Folgen des Klimawandels stehen in keiner Relation zu dem, was das Coronavirus angerichtet hat. Der Vergleich ist geschmacklos, er sei aber ausnahmsweise erlaubt: auch nicht zu dem, was Kriege angerichtet haben. Die Erderwärmung und der Verbrauch aller fossilen Ressourcen werden nicht 1,7 Millionen Leben kosten (Stand vergangene Woche), sondern Hunderte Millionen, wenn nicht-langfristig-Milliarden. Für den Rest der Menschheit wird das Leben zur Mühsal werden. Die Eintrittswahrscheinlichkeit für dieses Szenario ist inzwischen extrem hoch. Die Katastrophe, die Zerstörung der Welt, wie wir sie kennen, kann kaum mehr abgewendet werden, nur mehr gemildert. All das wird nicht in ferner Zukunft passieren, vielmehr wird das Leiden und Sterben noch in diesem Jahrhundert beginnen. Wir sprechen von unseren Kindern und Enkeln.
Die flüchtige Begegnung mit dem Schicksal in Form von Corona könnte uns eine Warnung sein. Niemals seit 1945-so ist die Formulierung nämlich richtig sind ähnlich viele Menschen daran erinnert worden, wie fragil ihr Leben und die Erde sind. Der Schock des Zweiten Weltkrieges hatte zur längsten Friedensperiode in der Geschichte Europas geführt und zur Gründung der Europäischen Union. Ich fürchte, 2020 wird keine Auswirkungen haben, Corona ein ephemeres Ereignis bleiben.
Corona ist klein.
Die Klimakatastrophe wird unendlich groß.