Christian Rainer: Das ist kein Krieg
Zur Einordnung: Was Wien, was Österreich in der vergangenen Nacht erlebt hat, ist nicht der Beginn eines Krieges, es ist kein Tsunami mit Hundertausenden Toten, kein Atomkraftwerk ist in die Luft geflogen. Die aktuelle und die zukünftige Bedrohungslage sowie die Folgen des Terroranschlages in der Bundeshauptstadt sind mit jenen Katastrophen der Menschheit nicht vergleichbar. Hier hat ein Attentäter mit islamistischem Hintergrund, möglicherweise auch vernetzt, einen geografisch schmal eingegrenzten Anschlag verübt.
Hinzu kommt: Der von uns stets kritisch beobachtete Staat hat in dieser Nacht und am darauffolgenden Tag tadellos funktioniert. Polizei, Militär, Rettungskräfte haben, soweit das derzeit zu beurteilen ist, schnell, koordiniert und effizient eingegriffen. Die Politik zeigte Handlungsfähigkeit, fand sofort die angemessene Ausgewogenheit zwischen Entschlossenheit und Ruhe. Die Medien – mit den notorisch unerträglichen Ausnahmen – haben ihre Aufgabe professionell erfüllt. Angesichts der Verortung dieses Terroraktes inmitten der Corona-Pandemie und am Vorabend der US-Wahlen ist das beachtlich und beruhigend.
Damit diese Worte nicht herzlos klingen: Der Tod mehrerer Menschen, das Leid der Verletzen, der Angehörigen und aller Schockierten und Traumatisierten rührt auch mich zutiefst. Jede Form von tief gefühlter Anteilnahme gilt ihnen allen.
Warum trifft uns das Geschehen trotz dieser Einordnung – bloß ein punktueller Terrorakt – dennoch mit solcher Vehemenz? Zum einen machen uns die dramatischen Bilder so betroffen. An Orten, die viele von uns regelmäßig frequentieren, werden Menschen mit schweren Waffen wahllos niedergemäht. Die objektiv gegebene Gefahr bleibt über viele Stunden im Gebiet einer Millionenstadt, in der Hauptstadt der Republik, bestehen. Bis auf die (vielen) aus Kriegsgebieten nach Österreich geflüchteten MitbürgerInnen hat kaum jemand je Gewaltausübung mit Schusswaffen in unmittelbarer Nähe gesehen, geschweige denn davon ausgehende Gefahr verspürt. Diese Bilder, als Sprachfetzen, als Fotos, werden durch die sozialen Medien millionenfach ungehemmt vervielfältigt.
Hinzu kommt: Wir sind durch viele Jahre an Berichterstattung über islamistischem Terror bereits präkonditioniert für Erschütterung und Angst. Da hilft es nicht, dass die Ereignisse von 9/11 in New York oder der Überfall auf das Bataclan in Paris ganz andere Dimensionen hatten.
Zum anderen und abseits all dieser Wahrnehmungsverzerrungen hat unsere Betroffenheit aber einen realen Hintergrund, der jene Betroffenheit angemessen erscheinen lässt. Denn politischer Terror in jeder Form – links, rechts, (scheinbar) religiös motiviert – kann zu einem Flächenbrand werden.
Erstens: Wenn Terror mit den Mitteln des Gewaltmonopols eines Staates – Polizei, Militär – nicht in die Schranken gewiesen wird, erodiert das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit dieses Staates.
Zweitens: Wieder und wieder muss wiederholt werden, dass Terror niemals durch Ideologie, Religion oder andere Metathemen zu rechtfertigen ist. Das galt für den RAF-Terrorismus so sehr wie für Islamistische Gewalt.
Drittens: Wenn der Umgang mit dem Terror missbraucht wird, um innerhalb eines demokratischen System politische Hetze gegen einzelne Gruppen zu betreiben – aktuell meist gegen Menschen mit Migrationshintergrund –, kann dieser Terror das System unterminieren und die Gesellschaft zerstören.
Sobald auch nur einer dieser drei Punkte verfehlt wird, erreichen Terroristen ihr Ziel – selbst wenn sie Einzeltäter sind und ihre Attentate scheinbar eingegrenzt und schmal bemessen.