Christian Rainer: Die Demokratie und ihre Feinde
Am Freitag der vergangenen Woche sagte ein ehemaliger KGB-Offizier, der seine Lehrjahre in der DDR absolviert hatte: „Die liberale Idee hat ausgedient.“ Jede andere Aussage eines russischen Spions (etwa: „James- Bond-Filme sind mir zu brutal.“) wäre ja auch ungewöhnlich. Weil dieser Ex-Geheimdienstmann Wladimir Putin ist und weil Putin diesen Satz gegenüber der „Financial Times“ im Vorfeld des G20-Treffens von Osaka als eine Art Gegenwartsbeschreibung verwendete, die als Zukunftsprognose verstanden werden muss, hat sich der Satz Aufmerksamkeit verdient. (Auch Robert Treichler widmet sich in seinem aktuellen Kommentar den Worten Putins.) Was meint der russische Präsident? An wen richtet er sich? Hat er recht oder will er nur spielen (zum Beispiel mit Donald Trump, der durch die Konfrontation mit China aus russischer Perspektive zu viel Aufmerksamkeit bekommt)?
Sicherlich wollte Putin einigen seiner Kollegen eine reinsemmeln. Explizit trat er Angela Merkel gegen das Bein, deren Flüchtlingspolitik er scharf kritisierte. Für eine politologisch fundierte Standortbestimmung fiel die Analyse dann doch zu flapsig aus: „Die liberale Idee setzt voraus, dass nichts getan werden muss. Die Migranten können ungestraft töten, plündern, vergewaltigen, weil ja ihre Rechte als Flüchtlinge zu schützen sind. Jedes Verbrechen muss bestraft werden.“ Das klingt wie eine Beschreibung sowjetischer oder russischer Besatzungssoldaten, nicht aber nach der Realität an den Epizentren irgendeiner Flüchtlingskrise.
Dennoch unterscheidet sich das Verhalten des russischen Präsidenten vom Gewohnten. Gewohnt sind wir von all den östlichen Potentaten nämlich, von einem Recep Tayyip Erdoğan wie auch vom kürzlich pensionierten Nursultan Äbischuly Nasarbajew, dass sie sich als lupenreine Demokraten bezeichnen (Nasarbajew fand darin Unterstützung beim ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer). Auch die chinesische Führung vermeidet es, die Qualitäten unterschiedlicher politischer Systeme zu vergleichen oder gar ihr Fortkommen zu bewerten. Partei- und Staatschef Xi Jinping weist stattdessen stets darauf hin, dass jede Weltregion ihr eigenes System habe und brauche, basierend auf den jeweiligen Gegebenheiten, Mentalitäten und vor allem der spezifischen Geschichte.
Eine autoritäre Demokratie ist ein Widerspruch in sich.
Putin schert also aus. Er behauptet, den Gang der Geschichte erkannt zu haben und allgemeingültig deuten zu dürfen. Wahrscheinlich ist das nur eine Machogeste. Aber nochmals: Hat er recht?
Die Antwort ist schwierig, schon weil die Frage nicht eindeutig verständlich ist. Vermutlich liegt der Kern von Putins Aussage darin, dass er einen Siegeszug autoritärer Demokratien auf Kosten von Demokratien liberalen Zuschnitts behauptet. Ähnliches hört man auch von Viktor Orbán in Ungarn (bei dem sich Sebastian Kurz als Außenminister eine Bewertung nach den Kriterien böse oder gut verbeten hatte).
Eine Antwort auf Putin kann in diesem Fall nur sein, dass es nicht um mehr oder weniger liberal geht, sondern um demokratisch oder nicht demokratisch. Alles andere ist Etikettenschwindel. In der Realität unterscheiden sich die sogenannten autoritären Demokratien (für die im Besonderen die Freiheitlichen ein Faible entwickelt und ein Naheverhältnis gesucht haben) nicht nur durch einen graduell divergierenden Wertekanon von den liberalen Demokratien. Vielmehr sind nur liberale Demokratien Demokratien; die Hinzufügung des Adjektivs konstruiert einen Pleonasmus. Eine autoritäre Demokratie hingegen ist ein Widerspruch in sich. Am konkreten Beispiel: Ungarn betreibt nicht etwa nur eine von westlichen Werten abweichende Flüchtlingspolitik. Vielmehr wurden so gut wie alle unabhängigen Medien und damit die Pressefreiheit abgeschafft. Zeitgleich wird das Justizsystem unter politische Kuratel gestellt. In der Türkei geschah das Gleiche in verschärfter Form, in Polen in einer abgeschwächten Variante. Mit einer Spielart von „Demokratie“ hat das wenig zu tun. Das Wortgebilde „autoritäre Demokratie“ gehört daher auf den Misthaufen politischer Verführungspropaganda.
Aber werden sich jene nicht liberalen Regime durchsetzen, denen Wladimir Putin oder auch Viktor Orbán das Wort redet und die Zukunft verspricht?
Die Welt hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwar nicht „Das Ende der Geschichte“ mit einem Sieg des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall gefunden. Aber zumindest erleben wir Zyklen. Bei allem Schrecken angesichts von Donald Trump dürfen wir nicht vergessen, dass gerade noch dessen ebenso unwahrscheinliches Gegenbild Barack Obama im Oval Office saß, dass in Istanbul ein Erdoğan-Gegner Bürgermeister wurde – und dass wir in Österreich noch vor wenigen Wochen mit zwei Legislaturperioden unter Beteiligung der Herren Strache und Kickl gerechnet hatten (allenfalls sogar mit einem Bundespräsidenten Hofer).
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