Christian Rainer: Die Demokratie wehrt sich gegen die Zumutung
Als ein Wissenschafter vor einigen Wochen räsonierte, die Corona-Krise sei auch ein großes gesellschaftspolitisches Experiment, bezog sich diese Betrachtung stärker auf die Gesellschaft als auf die Politik. Was würden die Menschen aus der Disruption lernen? Corona ist abseits von individuellen Schicksalsschlägen – und für alle, die keinen Krieg durchmachen mussten – der tiefste Einschnitt in einer über Jahrzehnte hinweg von wachsender Prosperität und wissenschaftlichem Fortschritt geprägten Zeit.
Meine Antwort auf die obenstehende Frage habe ich hier bereits ausgebreitet (und eben erst mit Siobhán Geets, unserer neuen Kollegin in der Außenpolitik, für den profil-Talk auf SchauTV diskutiert): Die Menschen haben nichts gelernt. Der Alltag ist ebenso schnell wieder eingekehrt, wie sich die Straßen Mitte März geleert hatten.
Ich meine damit gar nicht die Tatsache, dass wir uns ohne Abstand und ohne Masken bewegen. Nichts anderes ist bei wenigen Hundert Infizierten und der entsprechend geringen Ansteckungsgefahr zu erwarten.Was ich meine und meinte: Trotz dieses Einschnittes ist kein Innehalten zu spüren. Keine Nachdenklichkeit hat sich breitgemacht. Corona hat kein Trauma ausgelöst. Das Virus hat die Menschen bloß erschreckt, aber nicht verändert. Wir steuern unbeeindruckt auf die nächsten Krisen zu, auch auf die ganz große: Die Klimaveränderung wird nicht einige Hunderttausend Menschen das Leben kosten, sondern einige Milliarden.
Muss man sich also wünschen, dass Corona sich weiter ausbreitet, eine zweite Welle Österreich erfasst? Nein, das doch nicht.
Corona ist nicht nur ein breit angelegtes Experiment für die Gesellschaft mit schmalen Resultaten. Vielmehr fokussiert die Krise auf das politische Personal, im Besonderen auf jenes in den Demokratien westlichen Zuschnitts. Wenn Angela Merkel sagt, das Virus und die damit verbundenen Einschränkungen seien „eine Zumutung für die Demokratie“, dann stellt die deutsche Bundeskanzlerin genau diese Verbindung her.
Indem demokratisch gewählte Politiker die durch eine Demokratie verbürgten Rechte aussetzen müssen, gerät das Staatsgefüge an die Grenzen des in der Theorie Statthaften und des praktisch Machbaren. Die Zumutung bestand im Shutdown selbst, die Folgen spüren wir durch dessen Aufhebung. Weil der Shutdown so fabelhaft funktioniert hat, ist ein weiterer kaum möglich.
Wenn eine Regierung den Ernstfall mit Härte gemeistert hat, kann sie den Normalfall nicht von sanfter Hand steuern. Was wir in diesen Tagen in Österreich und anderswo sehen, ist ein Flickwerk von Erkenntnissen und Maßnahmen.
Die Bekämpfung des Virus ist schwierig: Man kann es nicht niederringen, man kann die Ausbreitung nur eindämmen. Ausrottung ist unmöglich. Da hatte der Kanzler schon recht, als er prophezeite, erst eine Impfung werde den alten Zustand wiederherstellen. Oder auch nicht: Niemand kann sagen, ob eine Impfung hinreichende und dauerhafte Immunisierung garantieren wird oder ob die Menschheit in alle Zukunft mit dem Virus und dessen Verbreitung wird leben müssen.
Vielleicht ist die Situation aber auch schlimmer: Die USA stolpern von einem Rekord an Ansteckungen zum nächsten. Es wird zeitgleich gelockert und wieder festgezurrt. Die wichtigste Volkswirtschaft der Erde liegt in Agonie. Die USA sind der größte Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland ist Österreichs größter Handelspartner.
Doch die Demokratien lassen sich die Zumutung nicht mehr zumuten. Eine Wiederholung des Shutdowns wird nicht erst am Widerstand der Wirtschaft scheitern. Die Bevölkerung würde sich wohl gegen Angstmacherei wehren. Zwei Mal ein Paradoxon: Eins – weil die Maßnahmen der Regierung so gut funktioniert haben, konstatiert der Volksmund, dass die Maßnahmen doch gar nicht nötig waren. Zwei – weil die Regierung beim ersten Mal scharf durchgegriffen hat, kann sie es beim zweiten Mal nicht mit freundlichem Zureden versuchen.
Die Politik ist hilflos – und sie macht uns hilflos.
Eine Zumutung.
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