Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Die kranke Kirche

Die kranke Kirche

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Nur Gott weiß, was in den Kardinal gefahren ist. Eben noch und über Jahre hatte sich Christoph Schönborn Interviews mit profil verweigert, mit der Begründung, diese Zeitung habe doch seinen Vorgänger Hans Hermann Groer auf dem Gewissen. Nun aber stellt sich der Mann, der niemals klare Worte zu Groers Taten gefunden hat, an die Spitze der Bewegung, die den Missbrauch von Kindern durch Männer der Kirche aufklären will. Hat die schiere Quantität von Fällen, die in den vergangenen Wochen aufgetaucht sind, den Kardinal endlich überzeugt, dass sehr wohl sein kann, was nicht sein darf? Oder wusste er es ohnehin immer, sieht aber kühl kalkulierend, dass weiteres Leugnen zwecklos wäre? Hat er erkannt, welch massive Gefahr der katholischen Kirche droht und dass daher öffentlichkeitswirksames Handeln das Gebot der Stunde ist? Oder ist Schönborn tatsächlich betroffen?

„Die Kirche hat die Macht zur Tabuisierung verloren“, analysiert Andreas Pfeifer, der langjährige ORF-Korrespondent in Rom, die Lage. Der Widerspruch zwischen gepredigter und gelebter Moral des Klerus ist öffentlich geworden. Kaum eine Einrichtung der Kirche zwischen Knaben- und Priesterseminar ist nicht betroffen oder nicht im Verdacht. Eine ­Institution, die geglaubt hatte, die Aufklärung aufhalten zu können, wird von der realen Welt eines Besseren belehrt.

Sind die Missbrauchsfälle Einzeltaten der Vergangenheit? Oder sind sie Spiegel einer Gesellschaft, die jeden Maßstab verloren hat?“ Das fragt die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“. Beides nicht. Wer das tägliche Aufeinanderprallen von vorgefügter katholischer Moral und der Wirklichkeit sieht, der kann nicht von Vergangenheit sprechen. Der Priester mit einer mehr oder weniger heimlichen Geliebten ist ein Regelfall, gemeinsame Kinder sind nicht die Ausnahme. Das Verbot von Verhütung und Kondomen schreit in Zeiten von Aids und Überbevölkerung in Afrika zum Himmel. Und wer noch nicht von zeitnahen Missbrauchsfällen gehört hat, der wollte das einfach nicht hören.

Ebenso wenig aber hat der Missbrauch von Kindern mit einer „Gesellschaft ohne Maßstab“ zu tun. In diese Richtung versuchte sich eben erst auch Kardinal Schönborn in einem kircheninternen Medium zu retten. Dort brachte er den Missbrauch mit der „Frage, was in der 68er-Generation mit der sexuellen Revolution geschehen ist“, in Verbindung. Als hätte die „sexuelle Befreiung damals und seither sich nicht unter Erwachsenen ab­gespielt“ (Hans Rauscher im „Standard“), als hätten wir uns den verkorksten Kardinal Hans Hermann Groer als einen haschischrauchenden langhaarigen Kleriker Marke Hippie vorzustellen.

Nein, nein. Die Kirche hadert weder mit ihrer Vergangenheit noch mit einem kranken Umfeld. Sie krankt an sich selbst. Der Sachverhalt: Da glaubt jemand an Wunder in Form von Marienerscheinungen, verdrängt verbissen die biologische Übermacht der Sexualität und baut darüber hinaus selbstgerecht auf Heilung von innen heraus. In der Medizin liefe so ein Fall unter der Bezeichnung Psychose, im gesellschaftlichen Gefüge heißt dieser Fall jedoch katholische Kirche.

Wird in diesen Tagen vielleicht dem einen oder anderen klar, auf welch dünnem Eis sich bewegt, wer zugleich wider die Wissenschaft Glaubenstatsachen schaffen will und wider die menschliche Natur unnatürliche biologische Zustände?

Was tun in der akuten Krise? Man könnte sagen: Soll die Kirche sich jetzt doch selber helfen, hat sie sich doch über Jahrhunderte jede Einmischung von außen verboten! Soll sie allenfalls durch Verlust ihrer Klientel auf die Bedeutung einer beliebigen Sekte schrumpfen! Die Antwort befriedigt nicht. Zu stark ist die Kirche mit der Gesamtverfasstheit der Welt verwoben, zu wichtig sind ihre Aufgaben als letzter Hort von Menschlichkeit und Caritas in Krisenzeiten. Eine Implosion würde die lokale und globale Stabilität gefährden.

Die Aufgabe ist schwierig, denn die Kirche ist nicht nur hinter den gesellschaftlichen Idealen der Aufklärung zurückgeblieben, sondern auch hinter der politischen Entwicklung zur Demokratie. In Rom regiert einer allmächtig. Es ist ein bald 83-jähriger Mann. Bevor er Papst wurde, war er als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre der Scharfmacher des Vatikans. Der deutsche Greis soll nun die sexuelle Revolution im Klerus vorantreiben? Schwer vorstellbar.

Kardinal Schönborn ist fast 20 Jahre jünger. Er hat sich im vergangenen Jahr in manchen Angelegenheiten diskussionsbereit, tolerant, wenn nicht sogar liberal gegeben. Nun stellt er den Zölibat zur Disposition: Zu den „Fragen nach den Ursachen“ des sexuellen Missbrauchs in der Kirche „gehört auch der Zölibat“. Kann sein, muss nicht sein. Die Frage darf diskutiert werden.

Ja, der Zölibat ist Unsinn. Das sagt so gut wie jeder österreichische Priester und so mancher Kirchenfürst hinter vorgehaltener Hand. Aber wäre es nicht zu kurz gegriffen, das tausendfache Verbrechen des Kindesmissbrauchs ausgerechnet in jener Kirche, die über Jahrhunderte die Moral gepachtet hatte, mit dem Zölibat zu entschuldigen und aufzuwiegen? Das wäre es.

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