Leitartikel

Christian Rainer: Die Luft ist draußen

Pandemie, Wirtschaftskrise, Regierungsspitze vor der Anklage, drei Duelle. Die neue Normalität ist ganz schön abnormal.

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Wieder Freitagnachmittag, ein Leitartikel ist zu schreiben. Nichts brennt unter den Nägeln, das Sie hier nicht schon in den vergangenen Wochen gelesen hätten. Ein Kollege meint: „Irgendwie ist die Luft draußen.“ Habe ich mir auch gedacht, und Sie wahrscheinlich ebenfalls. (Corona ebbt ab, Impfung wirkt, Politiker im Ankündigungsmodus, Wirtshäuser krachevoll, Schulen in Betrieb, bald Ferien und Urlaub, Grenzen offen, Wetter wird wärmer.)

Ganz im Gegensatz zu lösungsorientiertem Journalismus, dem wir uns ja verschrieben haben, auch nicht hundertprozentig im Einklang mit dem Bekenntnis zu mehr positiv gestimmten Geschichten: Ich will diese Seite für eine Aufzählung all jener Dinge nutzen, die im Widerspruch stehen zu dem Gefühl, dass wieder Normalität in unser Leben eingekehrt sei.

Hat die Übung einen Sinn? Zumindest sollten wir uns bewusst sein, wie relativ die Wahrnehmung der Realität ist, wie eine Verbesserung des Schlechten oder auch der banale Zeitablauf als eine Wiederkehr des Guten empfunden wird. Ein höherer Sinn bestünde in einem Appell, man möge aus den medizinischen und politischen Katastrophen der vergangenen Monate lernen (aber der Appell bleibt vermutlich fruchtlos).

Also.

Die Welt steckt mitten in der schlimmsten Gesundheitskatastrophe seit der Spanischen Grippe vor hundert Jahren. Das Sterben, die Übersterblichkeit ist gut ablesbar anhand der vergangene Woche für Österreich veröffentlichten Bevölkerungsstatistik des Jahres 2020. Uns bekannte Menschen werden weiterhin an Corona sterben. Zigtausende leiden an Long Covid. Hunderttausende werden ihr Leben lang psychischen Schaden mit sich tragen (leider auch unsere Kinder). Den Erwachsenen ist Restlebenszeit genommen worden, den Jungen ein Teil ihrer Jugend. Freilich ist selbst diese niederschmetternde Betrachtung egoistisch, sie wird dem wahren Leid nicht gerecht: In Indien, in Schwellen- und Entwicklungsländern werden über die kommenden Jahre noch sehr viele Menschen mit dem Virus zugrunde gehen.

Die Pandemie löste eine Wirtschaftskrise aus, die landläufig als „schlimmste seit 1945“ bezeichnet wird.

Ich wehre mich gegen diesen Vergleich und halte ihn für unangebracht: Den Zweiten Weltkrieg als Maßstab anzusetzen, ist zynisch und verharmlost das Geschichtsgeschehen. Kalt am Rückgang der globalen (und österreichischen) Wirtschaftsleistung gemessen, ist der Vergleich aber richtig. Angesichts der ungeheuren Geldmengen, die verschenkt werden, wird die tiefe Rezession jedoch nicht spürbar. Finanzminister Gernot Blümel erklärte jüngst bei einer Veranstaltung, er rechne im Periodenvergleich eher mit „weniger Insolvenzen als mit mehr“. Mittelfristig hat die neuerliche Verschuldung der Welt scheinbar keine Auswirkungen, weil die Staaten für das verschenkte Geld kaum Zinsen zahlen müssen. Die Börsen boomen.

Doch die Situation ist trügerisch: Auch das wirtschaftliche Wohlergehen greift in Schwellen- und Entwicklungsländern nicht Platz. Andererseits kann sich kein Volkswirt (kein Regierungschef, kein Notenbanker) einen Reim auf eine Welt machen, in der Geld gratis ist: Steht in keinem Lehrbuch. Steht im Widerspruch zu jeder Theorie der Nationalökonomie. Ist brandgefährlich.

Derweil in der Innenpolitik: Auch da erscheint nichts normal, wenig ist schon einmal da gewesen. Das Ibiza-Video wirkt mächtig nach. Ein Bundeskanzler und sein Finanzminister werden von der Staatsanwaltschaft als Beschuldigte geführt. (Educated guess: Bei Kurz wird es zur Anklage kommen, bei Blümel nicht.) Wenn noch eine Regierung scheitert, haben wir italienische Verhältnisse. Zumal eine weitere Wahl ins Nichts führen würde: Welche Koalition wäre dann noch möglich?

Aber auch innerhalb der Koalition und in den Oppositionsparteien geht es drunter und drüber.

Zwischen Kurz und Wolfgang Mückstein kracht es schon jetzt; das wird noch ein Hahnenkampf werden. Als stünde es nicht schon schlecht genug: In der Sozialdemokratie duellieren sich Pamela Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil. Weder der taktische Rückzug des Burgenländers noch eine Anklage noch die Stimmbänder werden den Konflikt entschärfen. Wann gab es zuletzt solch einen chronifizierten öffentlichen Streit zwischen den Granden einer Großpartei? Und abschließend die Freiheitlichen: Hier wabert der Streit um die Parteiführung. Eine Mensur zwischen Herbert Kickl und Norbert Hofer – die schärfste Klinge der FPÖ gegen den Mann, für den bei der ersten Stichwahl zum Bundespräsidenten 49,7 Prozent der  Österreicher gestimmt hatten.

Die neue Normalität ist nicht normal.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.