Christian Rainer: Die vierte Welle
Ein Sommer wie damals, also ein Sommer wie 2019. Das ist der Halbzeitstand 2021. Wir haben schon weniger gelacht. Die Zahl der Covid-19-Neuerkrankungen ist seit Wochen im Keller. Der Umschwung kam so schnell, dass wir ihm mental nicht gewachsen sind. Das Nachher ist ja kein Vorher. Selbst wenn alles so bliebe, wie es jetzt ist, hätte sich doch alles verändert. Wir haben die Verletzlichkeit des Planeten und unsere eigene erlebt. Dennoch erscheint die Pandemie wie ein ephemeres Ereignis. Impfung wirkt, Wirtschaft auf Volllast, Wetter passt. In Wahrheit sind wir traumatisiert. Aber die Tücke von Traumata liegt eben darin, dass wir die Auswirkungen nicht identifizieren und nicht zuordnen können. Die äußeren Umstände sind vertraut aus der Erinnerung. Dazwischen fehlen einige Kader im Film. Das Anger Management funktioniert noch nicht. Die Kinder benehmen sich eigenartig.
Dabei waren die vergangenen 15 Monate nur ein Probelauf für alles, was passieren kann und sicher passieren wird. Wir haben keinen Krieg überlebt; daher versündigt sich, wer sagt, dies sei die schlimmste Krise seit 1945 gewesen; Kriege werden auf einer anderen Skala gemessen, und der Zweite Weltkrieg sowieso. Unsere Enkel werden der ersten Generation angehören, die von der Klimakatastrophe gebeutelt wird, die wir jetzt mit unserer Freude über das wiedergewonnene Wirtschaftswachstum so richtig anheizen. Corona war uns da keine Lehre, hat uns nicht Nachhaltiges und kein radikal neues Denken beigebracht. Im Gegenteil.
Aber wir wiegen uns auch bei Corona in trügerischer Sicherheit. Eine vierte Welle wird kommen, das sagen die Wissenschafter, und der Hausverstand sagt es auch. Diese Wissenschaft hat 2020 Fantastisches geleistet, bei der Erklärung für den schnellen Rückgang der Infektionszahlen versagt sie jedoch völlig: Mit der Mischung aus Impfung, Lockdown und (ohnehin stets bestrittener) saisonaler Abhängigkeit geht sich das nach Adam Riese niemals aus. Das heißt umgekehrt: Die Prognosemodelle sind auch nach oben nicht mehr valide; die Zahlen können jederzeit explodieren. Richtig: Die Impfungen werden die Höhe der Welle begrenzen (außer – unwahrscheinlich – eine neue Mutation pfeift auf die Antikörper). Vor allem: Bei den Geimpften werden keine schweren Krankheitsfälle auftreten; die Verfügbarkeit von Intensivbetten wird nicht wieder so schnell über die Freiheit im Land entscheiden.
Wie bereitet sich das Land auf die vierte Welle vor? Gar nicht. Ein Drittel der in Österreich lebenden Menschen wird sich nicht so bald impfen lassen. Diese Menschen gefährden alles: ihr eigenes Leben und das von anderen, das wirtschaftliche Fortkommen und die Arbeitsplätze, den Schulbesuch der Kinder.
Das Robert Koch-Institut rechnete vergangene Woche vor: Um eine schlimme vierte Welle zu vermeiden, müssen 85 Prozent der zwölf- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen immunisiert sein. Das schafft Österreich niemals.
Die Regierung öffnet derzeit alles, was irgendwie zu öffnen ist. Soll sein, das ist nicht der Punkt. Aber: Kein einziger Politiker will über eine Impfpflicht diskutieren, und die Wissenschaftselite spricht davon nur hinter vorgehaltener Hand. Alle reden um den heißen Brei herum. Das ist feig und unverantwortlich. Die Vakzine wird geschmeidig beworben, als ginge es bei der Pandemie um Spenden für den Wiener Tierschutzverein. Nach fast zwei Milliarden weltweit geimpften Personen, die jetzt geschützt und nicht als Zombies durch die Gegend laufen, spricht noch immer niemand Tacheles: dass es idiotisch ist, die Impfung für ein höheres Risiko zu halten als die Krankheit; dass nicht Pharmakonzerne und andere dunkle Mächte hinter den Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie stehen.
Impfpflicht? Es würde ja reichen, ein Leben ohne Impfung so unerträglich zu machen, dass die Besserwisser klein beigeben. Für alle Verweigerer: kein befreiendes Testen, fortgesetzte Maskenpflicht überall, kein Besuch von Lokalen, Sport- und Kulturveranstaltungen, Quarantänepflicht bei jeder Reise.
[email protected]
Twitter: @chr_rai